Monkeewrench 06 - Todesnaehe
hör dir das an! So viele Eulen habe ich seit damals in Mississippi nicht mehr rufen hören!»
«Nett.» Erleichtert sah Grace, dass sich bereits das erste Tageslicht hinter den Bäumen abzeichnete. «Aber auch ein bisschen gruselig.»
«Traurige Lieder», murmelte Annie und lauschte dem sanften Schu-hu, das die nächtliche Stille durchbrach. Dann schlang sie die Arme um den Körper, fröstelte und rieb sich die bloßen Oberarme. «Ganz schön kalt. Mach das Fenster zu, wir gehen rein.»
Die Männer auf dem Rücksitz erwachten schnaufend. «Wo sind wir?», ächzte Harley. «Warum fahren wir nicht mehr?»
«Weil wir da sind.» Grace sah, wie sich die Haustür öffnete und vier Männer auf die Veranda traten. «Und da sind auch deine Naturburschen, Annie.» Sie erkannte Magozzi sofort. Er hielt die Schultern so, wie er sie immer hielt, wenn er unter Adrenalin stand.
Neben ihm stand Gino, die Beine gespreizt, als bräuchte er ein breiteres Fundament, um sich aufrecht zu halten. Rechts und links wurden sie von zwei älteren Männern flankiert.
Der Chief sah zu, wie der eisbedeckte Range Rover ein Stück vor den Stufen widerwillig zum Stehen kam. Zusammen bildeten sie eine uralte Konstellation: eine Gruppe von Männern, die regungs- und ausdruckslos in einer Reihe darauf wartete, dass die Fremden sich ihnen näherten. Es war wie eine Seite aus seinem eigenen Geschichtsbuch, die sich ein ums andere Mal zu wiederholen schien.
So schweigend standen auch die Stammesältesten im Versammlungsraum, die Mienen undurchdringlich, wenn die Brüder vor sie hintraten, um ihre Weisheit zu empfangen. Unerschütterlich wirkten sie, so als stünden sie über allen emotionalen Verwicklungen. Der Chief war elf gewesen, als er den Saal zum ersten Mal betreten durfte, und die ledrigen Gesichter dieser Männer und Frauen, in die schon so viele Lebensjahre eingegraben waren, hatten ihm eine Heidenangst eingejagt.
Jetzt fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben selbst als ein Ältester, und ihm wurde klar, dass er genau das heute auch war. Er hatte sich die Rolle des Anführers nicht ausgesucht; das Schicksal hatte für ihn entschieden, und der Mantel der Verantwortung ruhte schwer auf seinen Schultern. Damals in Vietnam hatten die Bleichgesichter ihn «Chief» genannt, Häuptling, weil er eben Indianer war, aber er hatte sich nichts daraus gemacht und es auch nicht rassistisch gefunden, weil er daheim ja nur ein ganz normaler Krieger war. Doch mittlerweile hatte er sich diesen Titel verdient, erst recht, seit er Chef der Stammespolizei geworden war.
Gemeinsam mit den anderen sah er zu, wie sich die Vordertüren des Range Rover öffneten und den Boden mit Eissplittern sprenkelten. Doch anders als bei seinen Gefährten war sein Blick neutral und unverstellt von menschlichen Gefühlsregungen.
Die Frau, die als Erste ausstieg, war vergleichsweise klein, dafür aber erstaunlich pummelig. Für den Chief sprach ein rundliches Gesicht von Reichtum. Schlanke junge Frauen mochten junge Männer erregen, doch einem erwachsenen Mann verhieß ein üppiger Körper ein sanftes, weiches Kissen für die langen, friedlichen Stunden gemeinsamer späterer Lebensjahre. Und diese Frau trug ihr Gewicht wie ein Ehrenzeichen, sie fühlte sich so sichtlich wohl in ihrer Haut, dass sie sich mit einer aufreizenden Sinnlichkeit bewegte, wie eine Aufforderung zur Anbetung.
Er beobachtete, wie sie sich ein paar wiegende Schritte vom Wagen entfernte und eine Hüfte vorschob. Sie trug ein interessantes federbesetztes Kleid, was der Chief als gutes Zeichen nahm, und bewegte sich auf ihren hochhackigen Stiefeln mit traumwandlerischer Sicherheit und perfekter Balance über den rutschigen, vereisten Untergrund. Sie war ebenso selbstsicher wie Noya und sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst.
«Welcher der Herren würde sich denn bereitfinden, eine Dame zu eskortieren?», rief sie, und ihr Südstaatenakzent sorgte dafür, dass Claude sich fast überschlug, die Stufen hinabzustürmen und ihr ritterlich den Arm zu bieten.
Das nächste Lebewesen, das dem Wagen entstieg, war ein eigenartiger Hund mit so kunterbunt gemischtem Genmaterial, dass er glatt als Reservats-Straßenköter hätte durchgehen können. Auch das sah der Chief als gutes Zeichen. Voller Begeisterung flitzte der Hund von Baum zu Baum, und seine großstadtgewohnten Pfoten schlitterten über den eisglatten Boden. Das war das Wundersame an diesem Verwandten des Wolfes. Ein Hund war zuallererst immer Hund
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