Monster (German Edition)
gebetet. Ist schön da beim Gottesdienst, auch wenn man’s mit dem lieben Gott nicht so hat. Danach gibt’s immer Kaffee und Kuchen. Und eins können Sie mir glauben, auch wenn Sie’s mit dem lieben Gott nicht so haben. Er hat’s gewiss mit Ihnen.«
Aufwachen, und da sitzt Stephan und guckt besorgt aus dem schiefen Gesicht.
Aufwachen, und es ist Tag.
Aufwachen, und es ist Nacht.
Aufwachen.
Aufwachen.
Aufwachen.
Häufiger Aufwachen.
Länger wach sein.
Suppenmomente.
Starrmomente.
Nasserlappenmomente.
Eulenmomente.
Das alte Paar aus dem Wald.
Aufwachen.
Die Frau aus dem Touristenbüro.
Aufwachen.
Fremde halten dir Pralinenschachteln unter die Nase.
Aufwachen.
Der Mann aus dem Trekkingladen fühlt deine Stirn.
Aufwachen.
Josef.
»Hey, Junge. Junge. Du liegst jetzt schon eine ganze Zeit hier. Es wird Zeit weiterzumachen.«
Aufwachen, versuchen, das Bewusstsein wieder loszuwerden.
Aufwachen, und es ist Nacht.
Dum.
Aufwachen und das vertraute Geräusch in den Ohren.
Dum.
Aufwachen und das Rumpeln auf den Treppen hören.
Dum.
Benjamin steht auf.
Kurz scheint der Boden sich zu bewegen. Kurz wird ihm schwarz vor Augen. Dann zieht er sich ein paar Sachen an. Er zieht eine Jeans über die wackligen Beine, einen Pullover über den abgemagerten Oberkörper.
Dum macht es vor der Tür. Socken.
Dum. Schuhe.
Dum.
Dann nimmst du deinen ganzen fiebrigen Mut zusammen, öffnest die Tür und gehst endlich hinaus zu dem Geräusch.
Dum. Es ist Kathrin.
»Kathrin?«, sagst du mit einer Stimme, die lange nicht benutzt wurde.
Dum.
Kathrin reagiert nicht. Sie liegt auf dem Boden. Schleppen, pressen, drücken, fallen lassen. Sie schleift ihren Körper die Treppe runter, zieht sich von einer Geländersprosse zur nächsten, als könnte sie ihre Beine nicht benutzen. Als wären ihre Beine taub und tot. Mit jedem Ruck macht es das Geräusch. Ihre Hüfte. Dum. Dann die Füße. Dum. Ein Knallen auf die nächsten Stufen.
Dum, dum.
»Kathrin?«
Du überlegst, sie zu packen und zu schütteln, ihr notfalls ins Gesicht zu schlagen.
Schlafwandelt sie? Schlafwandeln ist gefährlich. Menschen können sterben beim Schlafwandeln. Kathrin könnte jeden Moment die Treppe hinunterfallen. Benjamin sieht, wie es sie anstrengt. Er sieht die Arme zittern, Oberarmmuskeln, die sich dünn und sehnig unter der Haut abzeichnen wie die gespannten Stahlseile einer Brückenkonstruktion. Langsam schleppt sie sich voran, bewegt sich wie in Zeitlupe. Wie Stephan, denkt Benjamin. Ihre Arme sind Stephanarme.
Er unternimmt nichts. Er steht oben am Treppenabsatz und starrt ins Halbdunkel, hinunter zu diesem merkwürdigen beinlosen Wesen, wie es sich mit aller Kraft die Treppe hinunterkämpft.
Dum, dum.
Dann hat Kathrin es geschafft.
Durch den Flur schleppt sie sich ins Wohnzimmer. Nur mit ihren Armen robbt sie voran. Ihre Fingerspitzen scheinen sich in den Boden zu krallen.
Benjamin folgt ihr vorsichtig, hört dem leisen Rascheln zu, das ihr Nachthemd auf dem Teppich macht.
In Stephans Zimmer ist es dunkel. Nur das Gestell des weißen Krankenbetts fängt etwas Licht. Benjamin wundert sich, dass er dieses Zimmer in all den Wochen niemals betreten hat. Es war nur eine Tür vom Wohnzimmer entfernt. Sie stand immer offen.
Kathrin schleift sich über den Boden, bis sie das Bett erreicht hat. Stephan schläft seinen schweren Medikamentenschlaf. Mit einer merkwürdigen Behutsamkeit schiebt Kathrin sich an dem Rollstuhl vorbei und zum Bett. Dann drückt sie sich in einem letzten Kraftakt mit einem Arm vom Boden ab, pflückt Stephans Hand von der Matratze. Halb unter dem Bett, Stephans Hand auf ihrem Rücken, bleibt sie liegen. Kathrin bleibt einfach so liegen und schläft weiter.
Benjamin setzt sich leise in einen Sessel und schaut sie an. Es ist ein friedliches Bild. Ein paar Minuten lauscht er dem Atem der beiden. Er geht langsam und tief.
Dann steht Benjamin auf und geht nach oben. Er stopft seine wenigen Sachen in die schwarze Sporttasche. Er streicht das Bettzeug glatt und legt die dicke Tagesdecke darüber. Er sieht sich noch einmal in dem Zimmer um. Zwei Blumensträuße stehen auf der Fensterbank. Er nimmt die Vasen mit den Blumen, stopft die feuchten Sträuße zu seinen Sachen in die Tasche. Dann trägt er die Vasen in die Küche und spült sie aus, trocknet sie sorgfältig ab und stellt die beiden leeren Gefäße auf die Anrichte.
Mit leisem Klackern öffnet er die Schlösser, dann die Haustür. Die Luft riecht klar. Die
Weitere Kostenlose Bücher