Monster (German Edition)
man nicht jeden Zentimeter seines Körpers berühren kann. Manchmal glaube ich, dass der Wunsch nach Erkenntnis damit beginnt, dass man die Fähigkeit hat, seinen Körper vollständig zu ertasten. Und dass man dann auch noch den Rest der Welt ganz und gar erfahren möchte.«
Auf dem Tisch liegt ein Stück ausgespuckte Pommes.
»Es gibt eine Stelle auf deinem Rücken zwischen den Schulterblättern, die du nicht berühren kannst«, sagt er. »Kann keiner. Außer die Gummimenschen aus dem Chinesischen Staatszirkus vielleicht.«
»Echt?« Lachend verbiegt sie die Arme hinter ihrem Rücken. »Oh«, sagt sie. Und dann: »Schau mal.« Sie dreht ihm den Rücken zu und zeigt, wie sich ihre Zeigefinger zwischen den Schulterblättern treffen.
»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragt sie. »Ich hatte mal eine Zootierpatenschaft. Ich weiß auch nicht, warum mir das gerade jetzt einfällt. Es war keins von den großen Tieren, die jeder sofort mit dem Zoo assoziiert, weil meine Eltern nicht so viel Geld hatten. Zumindest damals noch nicht. Warte mal, wie hieß es denn noch? Es hatte was von einem Biber, aber auch ein bisschen was vor einer Ratte. Also, stell dir eine sehr niedliche Ratte mit großen Hasenzähnen vor. Wenn ich kurz an etwas anderes denke, fällt’s mir wieder ein. Vielleicht sollten wir ... ach ja: Präriehund. Ein Präriehund. Ich durfte mir einen Namen ausdenken und hatte sogar eine Urkunde, in die ich ihn eintragen durfte. Stundenlang habe ich den Namen schönschreiben geübt, bevor ich mich getraut habe, ihn in der Urkunde einzutragen. Du musst mir versprechen, nicht zu lachen, wenn ich dir den Namen verrate. Bist du bereit? Verkneif dir das Lachen. Es ist aber auch wirklich sehr, sehr witzig. Aber du darfst trotzdem nicht lachen. Das ist das Spiel. Bist du bereit? Okay: Ich habe ihn Windi genannt. Windi. Verstehst du? Weil er so schnell wie der Wind war. Immer, wenn wir ihn besucht haben, ist er wie irr durch den Käfig geflitzt und Papa hat gesagt: Schau, er begrüßt dich. Mir war natürlich schon damals klar, dass die den ganzen Tag so herumrennen und ihm, also meinem Vater, vermutlich auch. Aber ich fand es trotzdem nett von meinem Vater, dass er das gesagt hat. Wir sind in der Zeit ziemlich häufig in den Zoo gefahren. Na ja, ich muss zugeben, mein Vater hat mich damals ziemlich bedrängt, dass wir immer zu Windi müssten oder dass ich allein den Bus zu Windi nehmen soll. Dass ich für ein solches Tier auch Verantwortung übernehmen müsse. Wie eine richtige Patentante eben. Obwohl meine Patentante ... aber egal. Er nannte es den Zootag. Ständig war Zootag. Wir sind so oft in den Zoo gefahren, dass ich manchmal auf dem Weg dahin die ganze Fahrt über geweint habe. Irgendwann ging’s dann aber nicht mehr zu Windi. Und ich muss gestehen, dass ich irgendwie insgeheim froh war, als es vorbei war. Ja, so sind Kinder, oder? Ich habe ewig nicht mehr daran gedacht. Eigentlich bis eben.«
»Er ist gestorben«, sagt er.
»Was?«
»Dein Windhund. Er ist gestorben. Und deine Eltern wollten dir den Verlust ersparen.«
Das Krokodil bewegt sich nicht. Er sagt nichts. Sie sagen nichts. Stehen einfach so da und starren auf das Reptil im Wasser. Er spürt, dass sie das nervös macht. Dass sie sich fragt, warum man noch einmal zurück zum Krokodil gehen musste, wo man die Pandabären, die Kängurus und die Pinguine noch gar nicht gesehen hat. Aber sie ist zu rücksichtsvoll, um das zu sagen.
Stattdessen sagt sie: »Das waren ja wirklich gute Pommes frites, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Normalerweise bekommt man ja in Parks kaum so auf den Punkt gegartes Frittiergut.«
Stattdessen sagt sie: »Wenn man so viele Tiere um sich hat, kommt man sich ein kleines bisschen vor wie in einer Fabel, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Tja, das Krokodil bewegt sich nicht.«
Stattdessen lacht sie: »Warum auch, es gibt ja nicht gerade viel, was es hier zu erledigen hätte, oder?«
Stattdessen sagt sie: »Was glaubst du, warum sich das Krokodil nicht bewegt?«
»Willst du mal was sehen?«, fragt er.
»Gerne, wohin willst du gehen?«
Er sieht sie an. Er zieht die Banane aus der Tasche. Er hebt sie über den Kopf wie einen Schlagstock. Sie schreckt in diesem Moment wirklich zurück, als hätte sie Angst, dass er sie mit einer Banane schlagen würde. Dann holt er aus und schleudert die Banane auf das Krokodil. Es macht ein dumpfes Geräusch. Ein enttäuschter Laut. So als würde in großer Entfernung jemand
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