Monster (German Edition)
Arterien zu einem dicken Schlamm abgesetzt haben und nur noch das Plasma durchsichtig und träge in mir schwappt. Dann klingelt das Telefon, ich hebe ab, der Empfang sagt, dass mein Taxi jetzt da sei, und ich steige zurück in meinen Anzug.
Wir stehen auf dem Feldweg und spielen Steineregen. Wir werden nie getroffen, das wissen wir. Wir sammeln größere, spitzere Steine. Wir lassen uns nicht mehr auf den staubigen Boden fallen. Wir werfen die Steine hoch und sehen ihnen nach, sehen, wie sie in den blauen Sommerhimmel aufsteigen wie ein Schwarm schwarzer Vögel, wie sie zu kleinen Stecknadelköpfen vor der blendenden Sonne werden, wie sie ihren Flug verlangsamen und schließlich runterkommen als ein Geschwader schwarzer Projektile. Es ist das letzte Mal, dass wir Steineregen spielen.
Füllen Sie Ihre Lungen noch einmal mit Sauerstoff. Heben Sie dabei langsam die Arme über den Kopf. Bringen Sie Ihre Atmung mit Ihren Bewegungen in Einklang.
Die Steine prasseln auf uns herunter. Simon und ich haben unsere Blicke starr in den Himmel gerichtet. Dann lässt mich ein Geräusch zusammenzucken. Ein trockener, dumpfer Laut. Ein endgültiges Geräusch. Ein Schlag auf einen Sack voll Murmeln.
Arme über den Kopf … einatmen. Senken Sie die Arme … ausatmen. Heben Sie die Arme … und einatmen.
Es ist ein schöner Tag. Es riecht nach Sonne und Erde. Ich drehe mich zu Simon um. Ich schaue ihn an. Da brüllt ein Mann. Da steigt ein Mann aus einem Auto und brüllt. Ich schaue Simon an, schaue in graue Augen. Und Simon schaut mich an. Der Mann brüllt. Ein Spinnennetz aus feinen Rissen zieht sich über die Windschutzscheibe seines Wagens.
Wir können nichts sagen, wir können dem Mann nichts sagen. Wir können dem Mann das Spiel nicht erklären. Wir können den Eltern das Spiel nicht erklären. Wir wollen nie wieder Steineregen spielen. Wir sprechen uns nicht ab. Das brauchen wir nicht. Wir wollen nie wieder Steineregen spielen. Und wir wollen nie wieder Hexe spielen.
Und nun atmen Sie aus und aus und aus.
Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich nicke und lächle, weil ich in Flugzeuge und Taxis steige, weil ich arbeite und arbeite. Ich bin ein guter Erwachsener, weil ich die richtigen Geschichten erzähle.
Ich atme aus und aus und aus.
Fürchte dich nicht, bei den ersten Anzeichen einer Migräne, einer Hyperglykämie, eines epileptischen Anfalls. Denn es gibt ein halbes Dutzend Apotheken in deinem Viertel und einen ganzen Bürgersteig voll ausgebildeter Ersthelfer.
Fast schon ein Freiticket zu einer charakterbildenden Erfahrung, wenn du mit deinem Fahrrad stürzt und der Bordstein deinen Schädel knacken lässt. Schließlich ist jedes Krankenhaus in deiner Nähe ein Unikrankenhaus voll mit Spezialisten, die nicht nur heilen, sondern auch lehren.
Es ist nicht schlimm, dass du plötzlich nichts mehr sehen kannst, weil eine Ader in deinem Kopf geplatzt ist. Wenn du wieder aufwachst, wird ein Neurochirurg von Weltrang neben deinem Bett sitzen und dir das Daumen-hoch-Zeichen geben.
Kein Grund zur Panik, wenn du bei Rot über eine Ampel gehst und ein schwarzer Wagen in deinen weichen Körper fährt, Knochen bricht, Muskeln quetscht und Organe zerreißt. Die nächste Intensivstation ist ja nur ein paar Krankenwagenminuten entfernt.
Überall Blut. Überall dein Blut. Zähne. Haut. Blanke Knochen.
Kein Problem, wenn auf der Straße dein Herz aussetzt, deine Lungen kollabieren, dein Magen durchbricht, weil immer jemand mit einem Mobiltelefon in deiner Nähe ist.
Überall verdammtes Blut. Verdammte Zähne. Verdammte Haut. Verdammte blanke Knochen.
Kennt irgendwer die Geschichte von dem Schüler, der auf der Abifahrt nach Italien mit den anderen aus seinem Jahrgang unter einem Jahrtausende alten, römischen Bogen durchgeht, ein Stein löst sich aus dem Gemäuer und killt ihn? Als wäre der Ewigkeit plötzlich ein blöder Witz eingefallen.
Halb so schlimm, wenn deine Lungen kollabieren.
Halb so schlimm, wenn eine Ader in deinem Kopf platzt.
Wirklich, wirklich halb so schlimm, wenn dein Herz aussetzt.
Kennt jemand die Geschichte von dem kleinen Jungen, der zu seinem Großvater geht?
»Mir ist langweilig«, sagt dieser Junge.
»Keine Angst«, antwortet der Großvater leise, »es dauert ja nicht allzu lang.«
Ach ja, bevor das ganz vergessen wird: In Wahrheit war Hauke gar nicht in Australien. Hauke ist bei einem Unfall gestorben. Ein Lastwagen hat ihn
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