Monströs (German Edition)
Papa!«
Jetzt war Ram klar, dass er es tun musste.
»Gut Kleiner, ich bringe dich zu deinem Papa, versprochen.«
Ram legte den ersten Gang ein und fuhr langsam auf die Brücke zu. Es war schlimmer, als er es aus der Distanz hatte einschätzen können. Die Brücke war länger und die Schlucht tiefer als gedacht. Der Platz zwischen den beiden Gleisen war so breit wie bislang auch, aber rechts und links neben den Gleisen, war kein mehrere Meter breiter Waldboden mehr. Lediglich ein hüfthohes Geländer, das sie auf dem Motorrad sitzend schon überragten, war einen halben Meter rechts und links neben den Gleisen angebracht.
»Nicht nach unten schauen!«, sagte Ram, als der Vorderreifen die Brücke berührte. Auch Ram achtete ab jetzt nur noch darauf, die Maschine sicher zwischen den Gleisen zu manövrieren. Vorher war ihm das ohne besondere Anstrengung gelungen. Aber jetzt, wo es darauf ankam, war er nervös. Wenn er mit dem Reifen eine Schiene streifte, so konnte das schon ein Schlingern und letztlich vielleicht einen Sturz verursachen. Als sie mitten auf der Brücke waren, geschah, was geschehen musste. Kinder tun immer genau das, was sie nicht sollen. Schon aus reiner Neugier. Paul konnte also nicht wirklich etwas dafür, als er seinen Kopf zur Seite drehte und nach unten schaute. In seinem ganzen Leben war er noch nie mit einer solchen Höhe konfrontiert gewesen. Das Klettern auf einen Stuhl stellte bis jetzt den höchsten Punkt dar, von dem aus er die Welt betrachtet hatte. Jetzt war zwischen ihm und dem Bach, der unten in der Schlucht floss ein Luftraum von über einhundert Metern. Augenblicklich fing er an, zu schreien und zappelte auf dem Sitz hin und her. Es geschah so unvermittelt, dass Ram ernsthafte Schwierigkeiten hatte, das Motorrad auf der Spur zu halten. Dreiviertel der Brücke lag jetzt hinter ihnen.
»Paul, mach die Augen zu und halt dich ganz fest an mir. Alles wird gut. Aber du musst ruhig sitzen, sonst kann ich dich nicht zu deinem Papa bringen.«
Es nutzte nichts. Paul zappelte weiter. Es gab nur noch eine Möglichkeit, heil über die Brücke zu kommen. Ram gab Gas und beschleunigte auf das Dreifache seiner bisherigen Geschwindigkeit. Die Maschine schlingerte entsetzlich hin und her wie bei einem Fahranfänger, der noch nicht richtig das Gleichgewicht halten konnte. Immer wieder musste Ram einen Fuß zur Abstützung auf den Boden setzen. Auf dem letzten Meter passierte es dann. Sein Fuß trat auf den Eisenträger des Gleises zu seiner Rechten. Aufgrund der dünnen Schneeschicht, die darauf lag, rutschte sein Fuß ab und das Motorrad kam in so starke Seitenlage, dass Ram es nicht mehr halten konnte. Er gab noch einmal Gas, dann schossen sie über das Ende der Brücke hinweg und stürzten seitlich in den Schnee. Paul war noch immer durch den Gürtel, den Karl um sie geschlungen hatte wie angekettet mit Ram verbunden. Das Motorrad rannte noch ein paar Meter weiter, bis es an einen Baum knallte und zum Stehen kam. Das Vorderrad war verbogen und die Vordergabel, wie auch der Lenker waren verzogen. Um Paul zu schützen, hatte Ram sich im Flug vom Motorrad auf den Bauch gedreht. Der Felsen auf dem Ram mit der Stirn aufschlug, war gerade so weit vom Schnee verdeckt, dass man ihn nicht sehen konnte. Ram verlor augenblicklich das Bewusstsein und landete mit dem Gesicht voran im Schnee. Die Platzwunde auf seiner Stirn sorgte dafür, dass sich der Schnee rot verfärbte wie ein in Erdbeer-Margarita getauchter Zuckerwürfel. Er spürte nicht mehr, dass sein offener Mund voll Schnee war und er nicht mehr atmen konnte.
Paul schrie, obwohl er völlig unverletzt war, als ob ein Haufen Wilder ihn bei lebendigem Leibe auf dem Grill garen wollte. Durch den dicken Ledergürtel war Pauls Körper immer noch fest mit dem von Ram, auf dessen Rücken er nun bäuchlings lag, verbunden. Die Gürtelschnalle lag unter Rams Körper begraben. Vielleicht hätte Paul sie geöffnet, wenn die Gürtelschnalle seitlich gewesen wäre. Aber so hatte er keine Chance. Er schrie und strampelte und versuchte, sich nach unten aus dem Gürtel zu winden. Aber er war zu fest zugezogen. Also schrie und strampelte er weiter. Erfahrungsgemäß hielt er das zehn Minuten durch, manchmal fünfzehn. Danach war sein Körper so sauerstoffarm, dass er das Bewusstsein verlor.
57
Als Martin wieder zu sich kam, wusste er im ersten Augenblick nicht mehr, wo er war und was geschehen war. Bevor er die Augen öffnete, fiel es ihm wieder ein.
Weitere Kostenlose Bücher