Monströs (German Edition)
hinauf. Wenn es zu steil oder zu gefährlich für den Jungen werden würde, würde er die Fahrt abbrechen.
55
Martin atmete die frische Luft so tief und genussvoll ein, als wenn es der erste Atemzug seines Lebens wäre. Wieder rannen Tränen über seine Wangen, aber diesmal waren es Tränen der Freude. Er lag unmittelbar neben der Seilbahnstation auf einem Schneeberg und starrte in den Himmel. Er hatte es geschafft. Er hatte sich durch die Schneemassen gegraben und die Lawine überlebt.
Martin hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Aber das war jetzt nicht mehr so wichtig. Kaltenbach hatte mit dem Rücken zu der herannahenden Lawine gestanden. Sie hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Das sprach dafür, dass Kaltenbach es nicht überlebt hatte.
Der Wind hatte nachgelassen, und es hatte aufgehört zu schneien. Mit dem Sturm waren die Wolken am Himmel verschwunden und das spärliche Licht des nicht mehr ganz vollen Mondes tauchte das verschneite umliegende Gelände in ein gespenstisches Halbdunkel.
Erst jetzt bemerkte Martin, dass er stark zitterte und seine Lippen vor Kälte bebten. Schwerfällig erhob er sich und stützte sich an die Wand der Seilbahnstation. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass die Eingangstür des Erdgeschosses nicht mehr zugänglich war. Sie war bis auf einen schmalen Spalt vollständig vom Schnee des Lawinenabgangs verschüttet. Martin konnte seinen linken Arm, nicht mehr bewegen. Nutzlos baumelte er an seinem Schultergelenk. Es hatte ihn seine letzten Kraftreserven gekostet, sich aus dem Schnee freizugraben und die währenddessen von seiner Todesangst gedämpften Schmerzen, kamen nun unvermindert zurück. Er glaubte schon ohnmächtig zu werden, als er sich um die Ecke zur linken Seite der Seilbahnstation schleppte. Dort führte eine Außentreppe aus Stahl hinauf zu der Ebene, auf der das Shuttle für den Transport der Skifahrer andockte. Da die untere Hälfte der Station im Schnee vergraben lag, konnte er die Treppe etwa ab der Mitte besteigen. Oben angekommen fand er die Glasschiebetür, welche den Eingang zur oberen Plattform bildete, offen stehend. Möglicherweise war die Notfallöffnung durch den Aufprall der Schneemassen aktiviert worden. Im Inneren der Station verströmten in den oberen Wandecken angebrachte kleine Nachtlampen ein schwaches Licht. Alles war so ruhig und menschenleer, dass Martin sich vorkam wie ein Besucher, der versehentlich nachts in den Kulissen eines Filmstudios eingeschlossen war. Langsam schritt er durch den Raum. Links hing das Skishuttle, das aussah wie ein Raumschiff, über den Stahlseilen. Die Schiebetüren des Shuttles waren ebenfalls geöffnet. Er konnte beim Durchqueren des Raumes einen Blick hineinwerfen. Es sah nicht anders aus, als ein Großraumabteil eines Zuges. Die Scheiben waren blau getönt. Der Mondschein fiel hindurch und spendete ein dämmriges Licht, das versprach, schon bald vom Licht des Tages abgelöst zu werden. In der Mitte des Shuttles befanden sich senkrechte Stangen, an denen sich die stehenden Fahrgäste festhalten konnten. Seitlich davon gab es Bänke entlang der Fensterscheiben. Vorne und hinten waren links und rechts Zweier-Sitzreihen mit einem Mittelgang angebracht. Martin richtete seinen Blick auf das kleine Kontrolleurszimmer gegenüber dem Eingang. Daneben führte eine Treppe in das Erdgeschoss. Martin humpelte weiter und öffnete die Tür zu dem Kontrolleurszimmer. Es war wie ein kleines Büro eingerichtet. Schreibtisch, Stuhl, eine Tastatur, ein Bildschirm. Ein Telefon suchte er hingegen vergeblich. Als er genauer hinschaute, konnte er aber den Anschluss für ein Telefon unter dem Schreibtisch ausmachen.
Er verließ den kleinen Raum und ging zu der Treppe. Es war dunkel da unten. Er fand einen Lichtschalter neben dem Treppengeländer. Augenblicklich wurde der Raum, in den die Treppe führte, in ein helles Neonlicht getaucht. Martin humpelte die Stufen hinunter. Mit dem gesunden rechten Arm hielt er sich am Geländer fest. Er hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Es war wie als Kind, als er sich ängstigte, in den dunklen Keller zu gehen, weil er Angst hatte, ein Einbrecher könnte hinter einer Ecke lauern.
Als er unten war, blickte er in einen großen Raum. Zusammengeklappte Holztische und Bänke sowie Sonnenschirme waren in einer Ecke übereinandergestapelt. Außerdem gab es eine Art Empfangstheke, neben der verschiedene Prospekte auf einem Ständer ausgestellt waren. Auf der rechten
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