Monströse Welten 1: Gras
bewahren; sie biß sich auf die Zunge, biß sich in die Wange und tat alles, um aufrecht im Sattel zu bleiben und nicht das Bewußtsein zu verlieren, auf gar keinen Fall.
Dann kam ihr ein Gedanke.
Dies ist Darenfelds Wald, rief sie sich ins Bewußtsein. Darenfelds Wald, der einmal innerhalb der Grenzen von Darenfelds Estancia gelegen hatte. Wir jagen in Darenfelds Wald, wo deine Freundin Janetta bon Maukerden umgekommen ist. Dimity öffnete den Mund zu einem Schrei, aber ihr Verstand zwang sie, ihn wieder zu schließen. Du wirst nichts sagen, befahl sie sich. Es hat nämlich niemand gesagt, daß Janetta hier gestorben sei. Niemand hat das gesagt. Man hat nur ihren Namen erwähnt und dann ›Darenfelds Wald‹ geflüstert. Und als Dimity der Sache auf den Grund gehen wollte, hieß es nur: ›Pssst, stell keine Fragen.‹
Sie wissen mehr als du, sagte sie sich. Du kannst ihnen nichts erzählen, was sie selbst nicht schon wüßten.
Bellend stoben die Hunde davon, und das Reittier unter ihr jagte ihnen nach. Sie hielt sich oben, die Augen wieder geschlossen. Alles, was sie tun konnte, war im Sattel zu bleiben. Sie mußte bleiben, wo sie war. Sie durfte nicht herunterfallen. Sie durfte nicht sprechen. Sie mußte die Schmerzen ertragen. Sie mußte die Jagd fortsetzen.
Die Jagd dauert an. Die Zeit verstreicht. Der Fuchs ist schon seit Stunden auf der Flucht. Die Reiter verfolgen ihn schon seit Stunden. Dimity hat vergessen, wer sie ist und wo sie ist. Es gibt kein Gestern mehr und auch kein Morgen. Es gibt nur noch eine bis in alle Ewigkeit dauernde Gegenwart, erfüllt mit dem Donnern der Hufe auf dem Boden, dem Rascheln des von den Hufen verdrängten Grases, dem weit entfernten Schrei des Fuchses und dem Gebell der Hunde. Stunden sind vergangen. Tage vielleicht. Vielleicht reiten sie schon seit Tagen. Sie weiß es nicht.
Nichts markiert den Fluß der Zeit. Durst, ja. Hunger, ja. Müdigkeit, ja. Schmerzen, ja. All das verspürt sie schon seit dem frühen Morgen: brennenden Durst, nagenden Hunger, schmerzende Knochen. Noch trockener kann ihr Mund nicht mehr werden, der Magen nicht leerer. Und die Schmerzen können schlimmer nicht werden. Schließlich gibt sie den Kampf auf. Es wird ewig dauern. Das Ding in ihrem Kopf wischt alle diesbezüglichen Zweifel weg. Nichts markiert die Zeit. Nicht vorher. Nicht nachher. Rein gar nichts. Bis das Reittier langsamer wird und stehenbleibt; unwillig erwacht sie aus dem qualvollen Dösen und öffnet die Augen.
Sie stehen am Rand einer anderen Baumgruppe und reiten langsam hinein, in das Wäldchen, das einer dämmrigen Kathedrale aus Bäumen gleicht. Hoch über ihnen öffnet sich das Blätterdach, und das Sonnenlicht durchdringt wie lange strahlende Speere die Dunkelheit. Im Licht eines dieser Speere sieht sie Stavenger, der mit einer Harpune in den Händen wurfbereit in den Steigbügeln steht. Aus den über ihm hängenden Ästen ertönt ein Wutschrei, und dann holt Stavenger aus, und die Leine wickelt sich hinter der Harpune ab wie ein güldener Faden.
Erneut ertönt ein gräßlicher Schrei; diesmal ist es ein Schmerzensschrei.
Ein Hund springt in die Höhe, um die Leine mit den Zähnen zu packen. Andere Hunde folgen seinem Beispiel. Dann bekommen sie sie zu fassen. Sie zerren den heulenden und schreienden Fuchs aus dem Baum. Etwas Großes und Dunkles mit glühenden Augen und mächtigen Reißzähnen fällt zwischen sie, und dann hört man nur noch Schreie und das Geräusch von Zähnen, die in den Leib des Fuchses geschlagen werden.
Erneut schließt Dimity die Augen, zu spät jedoch, um nicht das Blut zwischen den sich windenden Körpern zu sehen, und sie spürt… spürt eine Aufwallung von Lust, die so intim ist, daß sie errötet und die Luft anhält; die Beine zittern, wo sie am Körper des Reittiers anliegen, und ihr ganzer Körper erbebt in einer ekstatischen Zuckung.
Auch die anderen haben die Augen geschlossen, und ihre Körper beben. Außer Sylvan. Sylvan sitzt mit ausdruckslosem Gesicht aufrecht im Sattel; er hat den Blick auf das blutige Chaos vor sich gerichtet, die Zähne in stiller, trotziger Wut gebleckt. Von seiner Position aus sieht er Dimity, sieht ihren zuckenden Körper und die geschlossenen Augen. Um es nicht sehen zu müssen, wendet er den Blick ab.
Dimity öffnete die Augen erst wieder, als sie sich schon auf dem Rückweg nach Klive befanden. Sie hatten den Dunklen Wald verlassen und ritten nun auf dem Grün-Blauen Pfad zurück. Dann wurde der
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