Monströse Welten 1: Gras
Schmerz übermächtig, und unwillkürlich stöhnte sie leise auf. Einer der Hunde drehte sich zu ihr um, ein großes geflecktes Tier mit flammenden Augen. Der ganze Körper war blutverschmiert; sie wußte nicht, ob es das Blut des Hundes selbst oder das des Fuchses war. In diesem Moment wurde ihr bewußt, daß diese Augen sie während der Jagd immer wieder angeschaut hatten, daß diese Augen sie sogar angeschaut hatten, als der Fuchs aus dem Baum mitten in das Rudel fiel, als sie… dieses Gefühl verspürte.
Sie schaute auf die um die Zügel geklammerten Hände und hob den Kopf nicht wieder.
Als sie das Jagdtor erreicht hatten, war sie nicht imstande, selbst abzusteigen. Sylvan mußte ihr helfen. Er war so schnell zur Stelle, daß niemand bemerkte, wie schwach sie war. Niemand außer diesem Hund, dessen Augen in der einsetzenden Dämmerung rot glühten. Dann trollte er sich, und die anderen Hunde folgten ihm. Am Tor stieß der Jäger verhalten ins Horn und rief: »Die Jagd ist vorbei. Wir sind zurück. Laßt uns ein.«
Vom Balkon hörte Rowena das Hornsignal. Es verkündete, daß die Tiere verschwunden waren und die Menschen betreut werden mußten. Mit ineinander verkrampften Händen und offenem Mund beugte sie sich über die Balustrade, während ein Diener von innen das Hundetor öffnete und die müden Jäger einließ: den Jägermeister und die Jagdgesellschaft in ihren roten Mänteln, die Frauen in Schwarz, wobei sie in der Dämmerung in den gefütterten Reithosen wie aufgeblasene Frösche aussahen. Die zuvor weißen Hosen waren nun verschwitzt, und das strahlende Weiß des Halstuchs hatte unter dem Staub und der Spreu der hohen Gräser gelitten. Diener standen mit Wasserkaraffen und Bratspießen bereit. Die Bäder waren schon vor Stunden eingelassen und von den integrierten kleinen Öfen warmgehalten worden; die mit Essen und Getränken versorgten Jäger verteilten sich auf ihre Zimmer. Rowena holte tief Luft; sie stand kurz davor, die Ängste, die sie den ganzen Tag ausgestanden hatte, mit einem Schrei herauszulassen. Sie überflog die Reiter, bis sie die schlanke Gestalt von Diamante in Sylvans Arm erblickte. Dann brach sie in Tränen aus. Vor lauter Angst, daß Dimity vielleicht nicht zurückgekommen wäre, hätte es ihr fast die Sprache verschlagen.
»Dimity.« Rowena lehnte sich über das Geländer, wobei sie hoffte, daß Stavenger oder die anderen Angehörigen der alten aristokratischen Schule sie nicht hörten. Als das Mädchen aufschaute, winkte Rowena, und Sylvan machte eine Kopfbewegung in Richtung einer Seitentür. Binnen weniger Minuten stand Dimity im Zimmer ihrer Mutter, wo Salla sie vorwurfsvoll begrüßte.
»Schmutzig. Oh, bist du schmutzig, Mädchen. Wie ein Maulwurf. Überall dreckig. Leg den Mantel ab. Ich hole dir einen Bademantel, und dann kannst du die übrigen schmutzigen Sachen ausziehen.«
»Ich bin zwar schmutzig, aber sonst geht es mir gut, Salla«, sagte das leichenblasse Mädchen und patschte schwach auf Sallas geschäftige Hände.
»Dimity?«
»Mutter?«
»Gib Salla deine Kleider, Liebes. Warte, ich helfe dir mit den Stiefeln.« Die Aktion wurde von einem kurzen Grunzen begleitet. »Während du badest, kannst du mir von der Jagd erzählen.« Sie ging durch das luxuriöse Schlafzimmer, winkte und öffnete die Tür zum mosaikartig gekachelten Bad, wo das Wasser bereits eingelassen war und von einigen Feuern warmgehalten wurde. »Du darfst mein Badeöl benutzen. Als du klein warst, hast du immer gern darin gebadet. Bist du wundgeritten?«
Als Antwort versuchte Dimity ein Lächeln, was ihr aber mißlang. Sie bemühte sich, ein Zittern der Hände zu unterdrücken, als sie die Unterwäsche auszog und auf den Boden fallen ließ. Erst als sie im dampfenden Wasser saß, wiederholte Rowena: »Erzähl mir davon.«
»Es gibt nichts zu erzählen«, murmelte das Mädchen. »Es ist nichts passiert.« Das Wasser linderte die Schmerzen. Jede Bewegung tat ihr zwar noch weh, aber im warmen, belebenden Badewasser war es fast ein lustvoller Schmerz, der ihr nun in den Knochen steckte. »Es ist nichts passiert.«
Rowena stampfte leicht mit dem Fuß auf; Tränen glitzerten in den Augen. »Hattest du Schwierigkeiten mit dem Aufsitzen?«
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Hattest du… hattest du das Reittier vorher schon einmal gesehen?«
In plötzlicher Erkenntnis öffnete Dimity die Augen und sah ihre Mutter direkt an. »Das Reittier? Ich glaube, ich hatte es schon einmal gesehen, vielleicht
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