Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
ein Stück Laken zusammen und beißt darauf herum. »Das Jahr fängt wirklich miserabel an …«
»Aber dafür haben wir ein ganzes Jahr, um uns zu steigern!«
»Ich werde überhaupt nichts steigern. Ich werde enden wie Hildegard von Bingen. In einem Kloster …«
»Übertreibst du da nicht? Die war eine echte Jungfrau …«
»Ich entsage der Liebe … Und überhaupt bin ich dafür mittlerweile zu alt! Ich werde fünfundvierzig …«
»In einem Jahr!«
»Mein Leben ist vorbei. Ich habe meine Chance verpasst.«
Und sie beginnt wieder heftig zu schluchzen.
»Meine Güte, du bringst aber auch alles durcheinander, Jo! Okay, er verbringt den Silvesterabend mit Dottie, aber das ist ebenso gut deine eigene Schuld … Du rührst dich nicht, du rufst ihn nicht an, du bleibst wie angewurzelt in Frankreich!«
»Wie soll ich mich denn rühren?«, protestiert Joséphine und richtet sich im Bett auf. »Er ist der Mann meiner Schwester! Dagegen kann ich nichts tun!«
»Deine Schwester ist tot!«
»Sie ist nicht mehr da, aber ich denke die ganze Zeit daran …«
»Dann denk an etwas anderes! Denk an ihre Asche und werde wieder lebendig, sexy!«
»Ich bin nicht sexy, ich bin hässlich, alt und dumm …«
»Genau wie ich dachte, du bist total durchgeknallt … komm mal runter, Jo, dieser Mann ist wunderbar, und du hüllst dich in deine Witwenschleier und lässt ihn einfach ziehen … Du bist diejenige, die ihn sitzen lässt, nicht umgekehrt!«
»Wie, ich lasse ihn sitzen?«, fragt Joséphine benommen.
»Natürlich … Du knutschst leidenschaftlich mit ihm rum, und dann lässt du nichts mehr von dir hören!«
»Aber er hat doch auch leidenschaftlich mit mir rumgeknutscht, er könnte auch anrufen!«
»Er hat die Nase voll davon, dir Blumen, Mails und Süßigkeiten zu schicken, die du allesamt ignorierst oder in den Müll wirfst! Versetz dich doch mal in seine Lage! Man muss sich immer in die Lage des anderen versetzen, wenn man etwas verstehen will …«
»Und kannst du mir erklären, was da vor sich geht?«
»Das ist ganz einfach. So einfach, dass du nicht darauf gekommen bist! Er ist allein, es ist der einunddreißigste Dezember. Er hat ein paar Freunde eingeladen und hat Dottie gebeten, ihm zu helfen … Kannst du mir so weit folgen?«
Joséphine nickte.
»Dottie ist in festen Schuhen, einer dicken Hose, einem dicken Pullover, einem dicken Mantel gekommen, ich erinnere dich daran, dass es in London schneit, du brauchst nur den Wetterbericht zu schauen, wenn du mir nicht glaubst, also hat er ihr gesagt, sie soll alles mitbringen, um sich bei ihm umzuziehen, ein Kleid, Pumps, Lippenstift, Ohrringe, was weiß ich!«
Ihre Hand fliegt in Richtung Zimmerdecke, um zu unterstreichen, wie wenig sie weiß.
»Er hat ihr gesagt, dass sie sich in seinem Zimmer umziehen könne … Sie hat ihm geholfen, den Tisch zu decken, zu kochen, sie haben in der Küche gelacht und getrunken, sie sind Freunde, Jo, Freunde … wie du und ich, mehr nicht! Und danach ist sie unter die Dusche gegangen, hat im Vorbeigehen ihre Uhr auf seinem Nachttisch abgelegt, hat sich angezogen, sich hübsch gemacht, ist wieder hinaus zu Philippe, Alexandre und ihren Freunden ins Wohnzimmer gegangen und hat ihre Uhr im Schlafzimmer vergessen … Genau das ist passiert, mehr nicht … Und du machst gleich eine ganze Seifenoper daraus, legst Dottie in transparentem Negligé und mit dem Ring am Finger in Philippes Bett! Du hörst in deinem Kopf den Hochzeitsmarsch und heulst in deine Decken!«
Joséphine hat das Kinn in der Falte der Decke vergraben. Sie hört zu. Shirley hat recht. Shirley hat wieder einmal recht. Genau so war es … Sie will die Geschichte glauben, die ihr Shirley erzählt. Es ist eine schöne Geschichte. Und doch glaubt sie nicht daran. Als wäre diese Version etwas für Shirley und ihresgleichen, aber nicht für sie, Joséphine.
Sie spielt nie die Rolle der Heldin.
Man erfindet immer Geschichten, wenn man verliebt ist. Man erfindet Rivalinnen, man erfindet Rivalen. Man erfindet Komplotte, man erfindet gestohlene Küsse, Flugzeugabstürze, ein Schweigen, das unerklärt bleibt, Telefone, die nicht klingeln, man erfindet verpasste Züge, verloren gegangene Briefe, man ist niemals ruhig. Als wäre den Verliebten das Glück versagt … Als existiere dieses Glück nur in Büchern, Märchen oder Zeitschriften. Aber nicht im echten Leben. Und wenn doch, dann auf eine derart flüchtige Weise, dass es wie Wasser zwischen den Fingern einer Hand
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