Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
der Nähe der Gare Montparnasse verabredet.
Er wartete schon, als sie kam, groß und in einem weiten violetten Sweatshirt mit Reißverschluss. Er war schon wieder gewachsen … Sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Er war auf sie zugekommen, hatte sie geküsst. Die ganze Luft war aus ihr gewichen wie aus einem roten Luftballon, an dem jemand den kleinen Knoten löst, und sie hatte gespürt, wie sie zu schweben begann! Sie schwebte hinauf auf die Tour Montparnasse, von wo aus er auf Paris hinunterschauen wollte, sie schwebte in den Aufzug, der so schnell hochfährt, dass es einem die Ohren verschließt, sie schwebte in das riesige Schokoladen-Himbeer-Eis, das sie sich geteilt hatten, sie schwebte durch ihr abruptes Lachen, ihren schüchternen Blick … Sie schwebte hinauf nach Montmartre mit seinen Läden voller bunter, gepunkteter und gestreifter Stoffe und Bänder, sie schwebte durch die Gärten des Palais-Royal, wo sie ihre müden Füße im Brunnen gebadet hatten, schwebte durch den Wirbel aus Kiwis und Orangen, die sie im »Paradis du fruit« im Forum des Halles gegessen hatten. Mit ihm ging es im Höllentempo durch Paris. Seine endlos langen Beine stiegen die Rolltreppen der Métro hinauf wie die eines Riesen, und sie rannte winzig klein hinter ihm her. Er ist genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe, zärtlich, witzig, lieb, mutig, lächelnd. Sie hatten über das kommende Jahr gesprochen, über alles, was sie dann unternehmen wollten, die Orte, an denen sie spazieren gehen würden. Er zeigte ihr die Stadt, als gehörte sie ihnen. Sie hörte ihm zu, konnte nie genug bekommen, schaute zu ihm auf. Mehr, hätte sie gern gesagt, gib mir mehr Pläne. Mehr Küsse … Sie waren gerannt, damit er seinen Zug nicht verpasste, sie hatte ihn geküsst, und dreißig Sekunden bevor der Zug losfuhr, war sie eingestiegen und hatte gefragt, dann ist es also sicher? Wir sehen uns ganz bestimmt im September? Er hatte sie geküsst, hatte gesagt, sicher, ganz sicher, und sie war wieder ausgestiegen und hatte gehört, wie sich der Zug in Bewegung setzte.
Falls dieses Buch ihre Mutter auffressen würde, wäre sie wenigstens nicht allein, Gaétan wäre bei ihr.
Und sie biss in ihr Nutellabrot.
Becca war sehr beschäftigt.
Sie verließ morgens früh das Haus und kam erst spätabends wieder. Sie weigerte sich zu sagen, wohin sie ging, und wenn Philippe oder Alexandre sie fragten, antwortete sie Not your business! Wenn es etwas zu erzählen gibt, werde ich es euch sagen, aber im Moment ist es sinnlos …
Annie war in die Küche zurückgekehrt und klagte über ihre schmerzenden Beine. Sie würde bald nach Frankreich fahren, um drei Wochen bei ihrer Familie zu verbringen, und hatte schon einen Termin bei einem Phlebologen.
»Ich habe das Gefühl, dass sich mein Körper verändert«, sagte sie oft, und blickte auf ihre Beine hinab, als wären sie zwei von ihr losgelöste Gegenstände.
»Wir sind alle dabei, uns zu verändern«, antwortete Philippe geheimnisvoll.
Alexandre plante seine Ferien. Er würde einen Monat in Portugal verbringen, bei einem Freund, dessen Eltern ein Haus in Porto hatten. Er breitete große Europakarten auf dem Boden aus, um die Stadt zu suchen, in die er reisen würde. Berechnete Entfernungen und die Teilstrecken, die sie mit dem Auto zurücklegen würden … Wir halten hier und hier und hier … Annie behauptete, er sei noch zu jung, um ohne seinen Vater zu verreisen. Philippe entgegnete, dass ihm keinerlei Gefahr drohe.
»Er muss auch lernen, allein zurechtzukommen … Und außerdem, überlegen Sie doch mal, Annie, er ist ja nicht sich selbst überlassen. Ich kenne die Eltern seines Freundes, und sie sind sehr nett …«
Sie brummte, dass er das doch gar nicht wissen könne. Er habe sie ein paarmal bei den Elternversammlungen der französischen Schule getroffen, so etwas nenne sie nicht »kennen«. Außerdem, fügte sie hinzu, sei Alexandre noch klein …
»Er ist nicht mehr klein! Er ist fünfzehneinhalb …«
»Die Welt ist gefährlich geworden!«
»Ach, Annie, hören Sie auf, sich vor allem zu fürchten!«
»Warum begleiten Sie ihn nicht?«
»Erstens bin ich nicht eingeladen, und zweitens finde ich es sehr gut, dass er einen Monat lang sein eigenes Leben lebt …«
»Ich hoffe bloß, dass ihm nichts passiert …«, seufzte sie, und ihre Miene verhieß dabei nichts Gutes.
Abends aßen sie zusammen in der Küche.
Becca verlor kein Wort darüber, was sie tagsüber getan hatte. Annie behauptete, ihre
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