Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
eine ganze Menge zu revanchieren.«
»Ich weiß nicht …«
»Doch, natürlich, denken Sie nur einmal nach, dann fällt es Ihnen ein … Schreiben, das bedeutet seinen Schmerz in die Hand zu nehmen, ihm ins Gesicht zu sehen und ihn ans Kreuz zu nageln. Und danach ist es einem scheißegal, ob man geheilt ist oder nicht, man hatte seine Revanche … Man hat etwas aus all diesem Kummer gemacht, und zwar etwas, das es einem manchmal ermöglicht zu leben oder wieder aufzuleben, je nachdem …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen …«
»Finden Sie ein Thema, das Sie inspiriert, und schreiben Sie. Öffnen Sie die Schleusen … Legen Sie all Ihren Kummer, all Ihren Schmerz hinein und nageln Sie sie ans Kreuz! Wagen Sie wieder zu atmen, wieder zu leben! Sie sind wie ein kleiner Vogel, der am Rand des Nests sitzt und mit den Flügeln schlägt, aber nicht loszufliegen wagt. Dabei haben Sie sich längst bewährt, was wollen Sie denn noch?«
Jeden Tag mit jemandem wie Ihnen zu Mittag essen, hätte Joséphine am liebsten gesagt, aber sie schwieg.
»Die Leute haben die Nase voll«, fuhr Serrurier fort. »Sie sind müde, erzählen Sie ihnen Geschichten … Geschichten, die ihnen Lust machen, morgens aufzustehen, die Métro zu nehmen und abends wieder nach Hause zurückzukehren. Erfinden Sie die alten Geschichten neu, die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht . Na, los …«
»Aber ich habe keine Geschichten zu erzählen!«
»Das glauben Sie! Sie haben tausende Geschichten in Ihrem Kopf und wissen es nicht. Die Schüchternen, die Armen, die Verkannten haben immer tausende Geschichten im Kopf, weil sie sensibel sind, weil ihnen alles nahegeht, weil alles sie verletzt, und diese Kränkungen, diese Verletzungen verwandeln sie in Emotionen, Figuren, Situationen … Deshalb ist das ja auch kein Leben, Schriftsteller zu sein. Man leidet die ganze Zeit … Glauben Sie mir, das Verlegerdasein ist viel angenehmer!«
Er lächelte breit, seine Zigarre zwischen den Zähnen. Nahm den Kaffee entgegen, den der Kellner ihm reichte, und fragte ihn, wie er es schaffe, seine Stelle zu behalten, so ungeschickt wie er sei, ich habe noch nie einen derart trampeligen Kellner erlebt!
»Und was ist mit meinem Guthaben?«, fragte Joséphine, die spürte, wie erneut Panik von ihr Besitz ergriff.
»Vergessen Sie Ihr Guthaben und machen Sie sich an die Arbeit! Um Ihr Geld kümmere ich mich … Sagen Sie sich, dass Sie von jetzt an nicht mehr allein sind mit Ihren Zweifeln und Ängsten, und entspannen Sie sich! Entspannen Sie sich! Sonst gehe ich Ihnen an die Gurgel!«
Joséphine verspürte den Drang, ihm um den Hals zu fallen, aber sie riss sich zusammen und atmete, ohne zu protestieren, eine Qualmwolke ein, die sie zum Husten brachte und das glückselige Lächeln aus ihrem Gesicht vertrieb.
An diesem Abend wartete Joséphine, bis Zoé ins Bett gegangen war, und setzte sich hinaus auf den Balkon. Sie hatte dicke Wollsocken angezogen, die sie auf Anweisung von Hortense bei Topshop gekauft hatte – die besten Socken der Welt, wie Hortense behauptete. Dicke, wollene Kniestrümpfe. Einen Schlafanzug, einen dicken Pullover, ihr Federbett.
Und einen Thymiantee mit einem Löffel voll Honig.
Sie setzte sich auf den Sternenbalkon.
Lauschte in die kalte Dezembernacht hinaus, hörte ein Mofa in der Ferne, das Rauschen des Windes, die Alarmanlage eines Autos, einen bellenden Hund …
Sie schaute zum Himmel auf. Fand den Kleinen und den Großen Wagen, das Haar der Berenike, den Pfeil und den Delfin, den Schwan und die Giraffe …
Sie hatte schon lange nicht mehr mit den Sternen gesprochen und begann damit, ihnen zu danken.
Sie dankte ihnen für das Essen mit Serrurier. Danke, danke. Ich habe nicht alles verstanden, ich habe nicht alles behalten, aber er hat in mir den Wunsch geweckt, die Kastanienbäume zu umarmen, auf Ampeln zu klettern, Stücke vom Himmel einzufangen.
Sie trank einen Schluck Thymiantee und schob sich ein Löffelchen Honig unter die Zunge. Was hat er noch einmal gesagt? Was hat er gesagt? Am liebsten hätte ich danach Siebenmeilenstiefel angezogen …
Hör zu, Papa, hör zu …
Er hat gesagt, dass ich Talent hätte, dass ich ein neues Buch schreiben solle.
Er hat gesagt, dass es mir gelingen würde, meinen Kummer ans Kreuz zu nageln und ihm ins Gesicht zu sehen.
Er hat gesagt, dass ich es wagen müsse. Vergessen müsse, dass meine Schwester und meine Mutter mir die Flügel gestutzt haben. Mich aufs reine
Weitere Kostenlose Bücher