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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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schon zu viele gesehen. Sie kommen und gehen, ich aber bleibe.
    «Ich bin fast fertig», wiederholte Marie. Sie dachte an den Patienten, den sie eben in der Notaufnahme untersucht und auf die chirurgische Station überwiesen hatte. Sie wusste schon nicht mehr, wie er hieß.
    Ein dicker Mann, der halbnackt auf dem Schragen gelegen hatte, auf der Seite, die Knie angezogen. Die Beschwerden, die er bei der Aufnahme beschrieben hatte, waren ihm nicht mehr anzumerken. Der Assistenzarzt hatte die Krankengeschichte aufgenommen und dann Marie angepiepst. Er wollte keinen Fehler machen. «Erzählen Sie mir bitte noch einmal alles ganz genau», hatte Marie gesagt. Minutiös hatte der Patient das Wochenende beschrieben, was er getan und wie er sich dabei gefühlt hatte. Was der Hausarzt gesagt, welche Schmerzmittel er ihm verschrieben hatte. Und wie er dann vor dem Fernseher, mitten in der Sendung …
    «Welche war es noch, Monika?»
    Seine Frau, die auf dem Plastikstuhl in der Ecke saß und strickte, auf längeres Warten eingestellt, schaute auf. «Es war die Werbung», sagte sie.
    «Genau!» Während der Werbung habe er nach der Fernbedienung gegriffen und sei mitten in der Bewegung erstarrt, der Schmerz sei von da nach da geschossen und habe ihn paralysiert, das alles erklärte er umständlich und genau und eigentlich bester Dinge, es war ein Montag, er war nicht bei der Arbeit, er lag hier auf dem Schragen in der Notaufnahme, auf der Seite, die Knie angewinkelt, so war es auszuhalten. Doch als Marie seinen Rücken abklopfte, jaulte er auf und begann dann zu weinen wie ein kleines Kind. Seine Frau hielt den Blick starr auf ihre Stricknadeln gerichtet, als schäme sie sich.
    «Nierensteine», vermutete Marie. Der dicke Mann schaute zu ihr auf, mit einem Blick, der alles Vertrauen verloren hatte. Sie hatte ihn mit einer Berührung zum Weinen gebracht und wusste schon seinen Namen nicht mehr. Weil sie ihn nicht gelesen hatte. Dabei hätte sie die Akte nur ganz durchlesen müssen, um seinen Namen für immer in den Schubladen ihres Gedächtnisses versorgt zu wissen. Doch sie hatte ihn auf die Station eingewiesen, die Akte ungelesen weitergegeben, den Mann vergessen.
    «Ich kümmere mich darum», wiederholte Marie. «Ich war gerade auf dem Weg in mein Büro.»
    «Mhm.» Maries Büro lag auf der anderen Seite des Flurs. «Und bitte vor zwölf», sagte Frau Hablützel streng. Dann wurde ihr Gesucht plötzlich weich. Sie nahm die Lesebrille von der Nase, ließ sie an der roten Plastikkette um ihren Hals baumeln und beugte sich vor. «Ist es wahr?», flüsterte sie.
    «Was?», flüsterte Marie zurück.
    «Dass Ihr Mann jetzt Yogastunden gibt?»
    Die Talkshow. Die Pressekonferenz. Gion auf allen Kanälen. Marie hatte nicht mehr daran gedacht. Sie hatte es vergessen, wie sie die Namen der Patienten vergaß, die sie durch die Notaufnahme schleuste, für die sie im Turnus zuständig war. Wie eine Verkehrspolizistin mit ausgebreiteten Armen winkte sie sie vorbei, hier entlang, da wieder raus, etwas schneller bitte, bitte aufschließen! Eine dehydrierte Schwangere, unzählige Alkoholvergiftungen, Messerstiche, ein Schädelbasisbuch, ein geplatzter Blinddarm, bitte weiter, nicht stehen bleiben. Selbst wer in ihrer Abteilung landete, wer von ihr operiert wurde, blieb meist nur als Diagnose gespeichert. Immer öfter dachte Marie an ihren Hausarzt Dr. Vogelsang, der nicht nur sie, sondern ihre ganze Familie gekannt hatte. Frau Hablützel schaute sie fragend an. Marie riss sich zusammen. Die Berichte. Gion. Yoga.
    «Wo haben Sie das denn gehört?», fragte sie vorsichtig nach. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen durfte und was nicht. Gions Buch, groß angekündigt, sollte so schnell wie möglich erscheinen. Gleichzeitig durften keine Details darüber verraten werden. Gion hatte sich außerdem zur Yogalehrerausbildung angemeldet.
    «Lakshmi hat noch nie jemanden so schnell von null auf hundertachtzig gehen sehen! Es ist, als ob ich immer schon Yogalehrer gewesen wäre, weißt du, als ob das in mir drin geschlummert und nur auf den richtigen Moment gewartet hätte!»
    «Ist das denn überhaupt gut, wenn alles so schnell geht?», hatte Marie gefragt und an seinem Blick gesehen, dass sie wieder einmal das Falsche gesagt hatte. Es gelang ihr kaum mehr, das Richtige zu sagen. Früher hatte er ihre klaren Gedanken geliebt, ihre pragmatischen Kommentare. «Du holst mich immer wieder auf den Boden zurück.» Das sagte er zwar heute auch noch manchmal,

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