Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

legte sie die Hände in den Schoß und versuchte zu meditieren. Sie versuchte sich die Sonne vorzustellen. Bhuvanajnanam surye samyamat – Meditation über die Sonne führt zu Wissen über den ganzen Kosmos.
    Doch sie konnte ihre Gedanken nicht ausschalten. Schöne Yogini das! Lässt dich einfach fallen, nach allem, was du für sie getan hast! In welchem Sutra steht denn das? Welchem Yama entspricht das? Wirf weg, wen du nicht mehr brauchen kannst? Entledige dich deiner Freunde, wenn sie krank werden? Ha! Wie kann sie dir das antun, du hast doch das Studio mit ihr aufgebaut, du warst ihre erste Lehrerin – und hast du nicht monatelang auf Bezahlung verzichtet? Während ihre Schecks von Papa weiter eintrafen! Du hast ihr geholfen, das Studio zu streichen, du hast ihr die große Ganeesha-Statue im Eingang geschenkt, die du damals aus Indien mitgebracht hast. Die nimmst du mit, wenn du gehst, die gehört dir! Was hat dich das damals gekostet, den riesigen Elefanten aus Indien mitzunehmen! Du hast den Gott in deinen Schlafsack eingewickelt und kreuz und quer mit breiten Paketklebestreifen verklebt, und den ganzen langen Flug über hast du dir Sorgen gemacht, wie es ihm da unten geht im kalten Gepäckraum, eingeklemmt zwischen Koffern und Kisten, Ganeesha, der große Aufräumer, der die Hindernisse wegräumt, der Gott der Literatur und der guten Geschäfte. Alles, was Laskhmi sich für ihr Studio wünschen konnte. Lakshmi! Du hast geglaubt, sie sei deine Freundin! Die Sonne, denk an die Sonne. Du trägst die Sonne in deinem Bauch. Einatmen, ausatmen, einatmen.
    Schließlich stand Nevada auf, mühsam, sie musste sich an der Wand festhalten. Blieb einen Augenblick stehen, sortierte ihre Glieder, ein Fuß schien ihr abhandengekommen, sie spürte ihn nicht, er weigerte sich, sie zu tragen. Bei den Füßen würde es anfangen, hatte Kaiser gesagt. Es sei eher ungewöhnlich und auch ein wenig beunruhigend, dass Nevadas Beschwerden in den Händen begonnen hatten, in den Armen. Jetzt war es also so weit, ihr Körper passte sich an, er folgte dem vorgeschriebenen Verlauf der Krankheit.
    Dann Ameisen. Der Fuß meldete sich zurück. Er war nur eingeschlafen. Vorsichtig bewegte sie die Zehen, das Gelenk, dann stellte sie den Fuß probehalber ab, er trug sie noch. Nevada verließ das Studio mit kleinen schlurfenden Schritten. Sie hielt beide Hände vor ihren Bauch wie ein Feigenblatt, sie nahm die Strafe an, vertrieben aus dem Paradies.
    Sie trug die Sonne in ihrem Bauch. Und sie war so schwer.

 
    te hl ā daparit ā paphal āḥ pu ṇ y ā pu ṇ yahetutv ā t
    Ob man die Früchte seiner Handlungen
    genießen kann oder bereuen muss,
    hängt davon ab, ob diese Handlungen auf Erkenntnis
    oder auf einem Irrtum beruhen.
    Patanjali Yoga Sutra 2 . 14

     
Marie
     
    Marie hatte den Blick in die Ferne gerichtet, auf eine unbestimmte Zukunft, die am Ende des Flurs begann. Die Hände in den Taschen, ging sie, so schnell sie konnte, ohne in Laufschritt zu verfallen, an der offenen Tür vorbei. Die weißen Schöße ihres Mantels flatterten. Keine Zeit, keine Zeit, um stehen zu bleiben!
    «Frau Doktor Leibundgut!»
    Erwischt. Marie schaute durch die offene Tür hinein. Keine Zeit, keine Zeit, um hereinzukommen, sagte ihre Haltung. Ich würde ja gern, aber leider …
    «Die Berichte!» Frau Hablützel, eine der drei Stationssekretärinnen, kannte alle Tricks. Sie hielt Maries Blick stand. Marie blieb nichts anderes übrig, als vor ihren Schreibtisch zu treten wie eine Angeklagte vor Gericht.
    «Die von gestern, die von vorgestern. Der Chef hat schon zweimal nachgefragt.»
    «Sie sind fast fertig, Frau Hablützel. Ich hätte sie Ihnen heute Morgen geschickt, aber ich wurde in die Notaufnahme gerufen!»
    «Mhm …» Frau Hablützel glaubte ihr kein Wort. Das Diktieren der Berichte, das Nachführen der Patientenakten nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Die Bestimmungen der Krankenversicherungen änderten dauernd, beinahe wöchentlich wurden Memos versandt, mit neuen Weisungen, Berechnungstabellen, Kürzeln und Codes, die es zu berücksichtigen galt. Frau Hablützels Computer war mit bunten Zetteln beklebt, auf die sie die neuesten Änderungen notiert hatte.
    «Reklamiert wird natürlich bei mir, aber ich kann nichts schreiben, was nicht da ist!»
    Doch, das können Sie, dachte Marie, doch sie sagte nichts. Sie fürchtete sich vor Frau Hablützel, der dienstältesten Stationssekretärin, deren Blick immer zu sagen schien: Solche wie dich hab ich