Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
aber nicht im selben Ton.
«Yogalehrer haben doch eine große Verantwortung!» Je mehr sie lernte, desto komplexer schien ihr die ganze Sache. Sie hatte Gion ein Exemplar des Sutra-Kommentars geschenkt, mit dem sie arbeitete. Sie hatte gehofft, sie würden sich dadurch vielleicht wieder ein bisschen näherkommen. Doch in seiner Ausbildung wurde eine andere Übersetzung benutzt. «Und überhaupt», sagte Gion, «ich glaube nicht, dass du mit einer Stunde die Woche das Kriterium des ‹ununterbrochenen Übens über lange Zeit› erfüllst, Sutra 1.14, wenn wir schon dabei sind.»
«Mit einer ‹hingebungsvollen Haltung und mit Rücksicht auf andere›!», hatte sie zurückgeschossen, denn genau das hatten sie in der letzten Stunde besprochen. «Das Üben darf nicht zu Hochmut gegenüber anderen führen!»
«Das ist ja großartig: Du benutzt das Yoga Sutra, um mir eins auszuwischen! Wenn es das ist, was ihr bei Nevada lernt, dann wundert mich nicht, dass Lakshmi sie rausgeschmissen hat.»
«Rausgeschmissen?» Das hatte Marie nicht gewusst.
«Na ja, es ist nicht offiziell, ich habe es halt gehört. Ich nehme ja jetzt auch an den Teamsitzungen teil, das gehört zu meiner Recherche.»
«Für dein Buch?»
«Unter anderem. Seit wann interessierst du dich dafür, was ich mache?»
«Gion …» Darum ging es jetzt nicht. Sie entschuldigte sich – auch das schien sie immer öfter zu tun, und mit immer weniger Erfolg. Obwohl sie es durchaus ernst meinte. Wer war sie, seine Berufung in Frage zu stellen? Sie hatte schließlich auch schon immer gewusst, dass sie Ärztin werden wollte. «Aber Ärztin wird man nicht in zweihundert Stunden», sagte eine gehässige Stimme in ihr.
Marie seufzte. Sie wandte sich wieder Frau Hablützel zu. «Er ist erst in der Ausbildung», sagte sie. Das war schließlich allgemein bekannt. Er hatte den Namen von Laskhmis Yogastudio in der Talkshow genannt, was dazu geführt hatte, dass Frauen aus der ganzen Deutschschweiz die Fabrik am Fluss stürmten. Lakshmi hatte neue Klassen einrichten müssen, die zum Teil von Yogalehrerinnen in Ausbildung unterrichtet wurden. Aber nicht von Gion. Es leuchtete ein, dachte Marie, dass für eine so kleine Gruppe wie ihre kein Platz mehr im Studio war. Ob Nevada überhaupt noch unterrichten konnte? Seit Marie Nevadas Diagnose kannte, war sie auf ein plötzliches Ende ihrer Yogastunden gefasst. Sie würde Nevada anrufen. Gleich nachdem sie die Berichte unterschrieben und weitergeleitet hatte.
«Im Internet wird halt alles Mögliche geschrieben», sagte Frau Hablützel. «Zum Beispiel, dass der Fanklub geschlossen wird. Der von der Vorstadtklinik, wissen Sie. Ich bin ja Mitglied, vom ersten Tag an. Nicht erst, seit Ihr Gion dabei ist. Das habe ich Ihnen aber schon einmal erzählt. Wissen Sie, für mich ist er eben immer noch einer von uns. Ich vergesse nie den Tag, an dem er in mein Büro kam und mir eine riesige Glasschale voller Schokoladebonbons mitbrachte – hier steht sie, sehen Sie, ich habe sie immer noch. Er wusste sogar meinen Namen! ‹Frau Hablützel›, hat er gesagt, ‹ich weiß schon, wer hier die Fäden in der Hand hat! Wenn es nach mir ginge, hätten Sie die Hauptrolle in der Serie!› Ich kann es einfach nicht glauben, dass jetzt alles zu Ende sein soll. Wissen Sie, ob Gion eine eigene Fanseite aufschaltet?»
Bestimmt, dachte Marie. «Dazu darf ich leider nichts sagen.»
«Ich versteh schon.» Frau Hablützel setzte ihre Brille wieder auf. «Vergessen Sie nicht, die Berichte bitte vor Mittag abzugeben!»
Marie ging in ihr Büro. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel von Berichten, die sie durchsehen und unterschreiben musste. Sie suchte nach der Akte des Patienten mit dem Nierenstein und fand seinen Namen. Peter Schwarzenbach. Sie sagte ihn ein paarmal halblaut vor sich hin, damit sie ihn nicht gleich wieder vergaß. Obwohl sie ihn vermutlich nie wiedersehen würde. Und dann fand sie auf dem Stapel einen Namen, den sie gar nicht gesucht hatte.
Mira Bolliger Mehmeti. Die Frau mit den toten Augen. Marie gab ihren Namen in den Computer ein. Neunzehn Mal hatte die junge Frau in den letzten vier Jahren die Notaufnahme aufgesucht. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, albanischer Herkunft, in der Schweiz aufgewachsen, mit einem Schweizer verheiratet. Zwei Kinder, vier und zwei Jahre alt. Beide in diesem Krankenhaus geboren. Miras Beschwerden hatten mit der Geburt des Sohnes vor zwei Jahren begonnen. Blasenentzündungen, diffuse Beschwerden im
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