Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Aber ich finde es bezeichnend, dass du die Erklärung der Schulmedizin einfach so akzeptierst. Vielleicht solltest du in eine ayurvedische Klinik fliegen, ein dreiwöchiges Panchakarma durchführen, dich richtig reinigen, von innen nach außen. Wenn du dich erst einmal von allen Schlacken befreit hast, gehen bestimmt die Schmerzen auch weg, und deine Beschwerden – oder du erkennst, was sie dir sagen wollen. Vielleicht ist es ja auch eine karmische Schuld, die du in diesem Leben abtragen musst!»
Oona nickte. Sie blickte Nevada voller Mitleid an. «Ich bin mit Dolores einverstanden. Es ist doch offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Deine Beschwerden sind Ausdruck eines viel tiefer liegenden Problems. Ich wünschte, du könntest dich dem stellen. Ich wünschte, du würdest dich nicht in diesem Moment, in dem du es am meisten brauchst, von deinem Yoga abwenden. Andererseits ist das vielleicht auch eine Entwicklung, die sich schon länger abzeichnet, oder was meint ihr?»
Die anderen nickten.
«Wovon redet ihr?», fragte Nevada. «Was für eine Entwicklung, ich verstehe nicht.»
Blicke wurden gewechselt. Schließlich sprach Lakshmi. «Ich möchte nicht wegreden, was du für das Studio getan hast, Nevada. Du warst eine unserer wichtigsten und enthusiastischsten Lehrerinnen. Aber in letzter Zeit hast du eindeutig eine negative Energie eingebracht. Schau doch, deine Schülerzahlen werden immer kleiner. Viele haben zu Dolores oder Oona gewechselt, weil sie von dir einfach nicht mehr das bekommen, was sie erwarten. Und auch im Team gab es Beschwerden.»
«Im Team? Das Team sind wir!» Nevada schaute von einer zur anderen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich auf den Schulhof zurückversetzt. Die älteren Mädchen, die kichernd die Köpfe zusammensteckten und verstummten, wenn sie vorüberging, ihre Schwester Sierra, die so tat, als kenne sie sie nicht.
«Genau das meinen wir», sagte Nadine schließlich. «Dass du gleich so unreflektiert auf uns losgehst. Das ist nicht yogisches Verhalten. Du nimmst keinerlei Rücksicht auf uns, du interessierst dich nicht für uns, wer wir sind, was wir einbringen, was ins uns vorgeht, du siehst uns nur als Helferlinge. Nadine, mach mal schnell, Nadine, komm mal schnell, und dann immer das Theater mit den Abrechnungen!»
«Aber … Da sind doch tatsächlich Fehler passiert!» Nevada zählte ihre Schüler nach, bevor sie die Liste abhakte, die Nadine am Eingang abnahm. Beinahe in jeder Stunde hatte Nadine einen oder zwei Namen nicht aufgeführt. Zehn bis zwanzig Franken pro Stunde, achtzig bis hundertsechzig Franken pro Woche.
«Wir sehen den Yogaunterricht als spirituelle Praxis», nickte Lakshmi. «Im Grunde sollten wir überhaupt kein Geld dafür verlangen. Auf keinen Fall aber sollten wir wegen jedem Franken ein Theater machen. Das ist der falsche Weg.»
«Aber … Aber …» Die Schüler haben doch bezahlt, wollte Nevada sagen. Sie haben für meine Stunde bezahlt, nicht dafür, dass Nadine etwas extra bekommt, oder du …
«Es ist gerade sehr viel Pitta -Energie hier im Raum», sagte Lakshmi abschließend. «Ich schlage vor, wir stehen auf und praktizieren gemeinsam. Das wird die Luft reinigen und die Energien harmonisieren.»
Die anderen nickten. Sie rollten ihre Matten aus. Lakshmi drehte die Musik lauter. Die Yogalehrerinnen standen auf, begannen sich zu dehnen und zu strecken, sich zu bewegen. Nur Nevada blieb auf ihrer Matte sitzen. Die Beine leicht gebeugt vor sich ausgestreckt, den Lotussitz konnte sie nicht mehr, auch Sukhasana , der leichte Sitz, mit gekreuzten Beinen, fiel ihr heute nicht leicht. Der Raum wurde langsam wärmer, heizte sich auf. Die Fenster beschlugen sich, das sanfte Rauschen der Ujjayi -Atmung erfüllte den Raum. Ihre Kolleginnen glitten schwerelos durch den Raum, sprangen vor und zurück, stemmten sich in den Handstand, die Brücke und wieder zurück, beobachteten einander aus den Augenwinkeln, einzelne Übungen wanderten durch den Raum, wurden von einer nach der anderen aufgenommen und nachgemacht, bis am Ende alle auf dem Kopf standen, gleichzeitig. Nun konnte keine als Erste die Beine zu Boden sinken lassen.
Nevada schloss die Augen. Tränen rannen über ihr Gesicht. Dieser Raum war ihr Zuhause. Die Luftfeuchtigkeit, diese Musik, diese Atemgeräusche, diese Bewegungen. Das alles hatte sie verloren.
Sie versuchte zu atmen, erst durch das linke Nasenloch, dann durch das rechte, ein und aus, ein und aus, sie zählte immer langsamer, dann
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