Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
will? Nein! Ich sage nein. Stefanie kann nicht hier einziehen.»
«Nein? Du sagst nein?» Gion schaute zu ihr auf. Ungläubig, vielleicht amüsiert. «Das meinst du jetzt aber nicht im Ernst! Was meinst du, was passiert, wenn das auskommt? Wie du dann dastehst? Und ich erst?»
«Das ist mir egal.» Marie schob eine Hand in ihre Jackentasche. Da knisterte immer noch die zusammengefaltete, vermutlich längst überholte Liste der freien Hausarztstellen in der deutschsprachigen Schweiz.
«Was hast du da?» Mit einem Satz war Gion bei ihr. Er fasste in ihre Tasche und zog ihre Hand heraus. Langsam löste er ihre Finger, einen nach dem andern. Er faltete das Papier auseinander und schaute es eine ganze Weile lang an, ohne etwas zu sagen. Dann sah er Marie in die Augen. «So ist das also», sagte er langsam. «Und du wirfst mir vor, ich fragte dich nicht, bevor ich etwas entscheide! Hausarztstelle! Ist es das, was du willst?»
Marie hielt seinem Blick stand. Endlich eine Frage, die sie beantworten konnte. Endlich etwas, das sie wusste: «Ja», sagte sie einfach. «Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann schon.»
«Und ich? Und Stefanie?»
Marie zuckte mit den Schultern. «Wir könnten alle zusammen …»
Gion schnaubte. «Das würde dir so passen, was? Ich sag dir mal etwas: Wenn erst durch alle Medien gegangen ist, dass du meine Tochter nicht bei dir aufnehmen wolltest, dann wird dich keine Gemeinde der Schweiz mehr anstellen wollen. Kein Spital. Niemand. Niemand wird dir mehr vertrauen. Niemand wird mehr dein Patient sein wollen. Ohne mich bist du niemand, versteh das doch endlich. Du bist nichts ohne mich!»
Nevada
Der legendäre Yogi Sri Tirumalai Krishnamacharya, das hatte Nevada in einem Buch gelesen, konnte mit bestimmten Pranayama -Techniken sein Herz zum Stillstand bringen. Es gab beglaubigte Dokumente von Experimenten, die unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt worden waren. Das Herz hatte aufgehört zu schlagen. Mehrere Minuten lang. Der Mann lebte weiter. Das Herz war in der yogischen Lehre das Zentrum von allem. Der Sitz des Geistes.
Wir atmen mit dem Herzen, dachte Nevada. Ihr eigenes Herz schlug nicht mehr im Takt. Und jeder Schlag tat weh, drückte auf eine wunde Stelle in ihrer Brust. Ihr Herz war dunkelrot, geschwollen, entzündet. Es schlug gegen die Wände seines Gefängnisses, als könnte es sich so betäuben. Nevada verzehrte sich. Ihre Krankheit, ihr Rauswurf, das alles berührte sie nicht mehr, sie dachte nicht darüber nach, es gab nur noch Wolf. Sie wollte ihn so sehr, dass sie nichts anderes mehr fühlen konnte.
Sie wünschte sich, sie könnte ihr Herz zum Schweigen bringen. Doch Krishnamacharya hatte sich geweigert, diese Technik zu unterrichten. Sie habe keinen Nutzen für den Schüler, hatte er seinem Sohn TKV Desikachar erklärt. Sie sei weder der körperlichen noch der geistigen Gesundheit zuträglich, sondern diene nur dazu, Aufmerksamkeit zu erregen. Mit solchen Yogademonstrationen hatte er zu Anfang seiner Laufbahn als Lehrer versucht, interessierte Zuschauer von der Wirkung des Yoga zu überzeugen und als Schüler zu gewinnen. Doch je länger er unterrichtete, desto weiter entfernte er sich vom Spektakulären.
Nevada hielt sich am Yoga Sutra fest wie an einem Seil, das sie über eine schwankende Hängebrücke führte. Es bot keinen stabilen Halt, es bewegte sich im Wind, gab nach. Ein Sutra war wörtlich übersetzt nicht einmal ein Seil, nur ein Faden. Ein roter Faden, der sich durch ihren Geist schlängelte. Doch jedes Mal, wenn sie nach ihm griff, rollte er sich auf. Jedes Mal, wenn sie hinschaute, hatte er eine andere Form angenommen. Sie versuchte, sich auf die einfachsten Dinge zu beschränken. Yama. Niyama . Am Anfang anfangen. Doch auch da scheiterte sie an den einfachsten Dingen. Zum Beispiel am ersten Niyama : Sauca, Reinlichkeit. Bezog sich das etwa auch auf ihre Gedanken? Oder Tapas , das innere Feuer, der Ofen, der die Hindernisse verbrennt, die sich in den Weg zum Nirodah stellen, zum ruhigen, starken Geist. Unter Tapas verstand man in erster Linie Asana und Pranayama , aber es gab auch die sogenannten Kriyas . Reinigungsrituale, die darin bestanden, dass man einen in Salzwasser getränkten Stoffstreifen verschluckte und Stück für Stück wieder aus dem Magen zog, dass man Salzwasser erbrach oder damit Einläufe machte. Techniken, die den Erbrechritualen der Ballettschülerinnen nicht unähnlich waren und die Nevada immer viel zu leicht gefallen waren.
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