Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Geld. Ihre Stelle bei der Lokalzeitung existierte nicht mehr. Es war genau das eingetroffen, was sie immer befürchtet hatte: In ihrer Abwesenheit hatte man bemerkt, dass man sie gar nicht brauchte.
«Wir würden dich aber gern interviewen», sagte Hanspeter. «Der Fall Bolliger hat ja ziemlich hohe Wellen geschlagen!»
Poppy lehnte ab. Sie würde sich eine andere Stelle suchen. Leider hatte sie keine marktkompatiblen Fähigkeiten, wie ihre Betreuerin auf dem Arbeitsamt erklärte. Vielleicht sollte sie sich weiterbilden? Sie drückte ihr eine Liste mit Kursangeboten in die Hand, doch Poppy ließ sie im Bus liegen.
Die Chaos-Prinzessin, las Poppy. Und: You mean I’m not lazy, stupid or crazy? Dr. Nussbaum hatte ihr die Bücher empfohlen. Die Psychiaterin, bei der Poppy sich abklären ließ. Es hatte, auch mit der Überweisung des Gefängnispsychiaters, lange gedauert, bis sie einen Termin bekommen hatte, noch länger, bis die Abklärung abgeschlossen war. Während sie wartete, las sie die empfohlenen Bücher. Schon die Titel sagten ihr das Wichtigste: Sie war nicht allein. Sie war kein Einzelfall. Es gab viele wie sie. Sie halfen sich selbst, so gut sie konnten. Sie rannten durch den Wald, um die zappelnden Glieder zu ermüden. Sie tranken, bis das Karussell in ihrem Kopf sich verlangsamte und schließlich stillstand. Sie schrieben detaillierte Listen, sie stellten Wecker und Uhren, tapezierten ihre Wände mit Post-it-Zetteln. Sie nahmen Drogen, sie machten Yoga. Manchmal half es, manchmal nicht.
Poppy musste seitenweise Fragebögen ausfüllen. Hören Sie manchmal Stimmen, die außer Ihnen niemand hört? Sehr oft, oft, manchmal, selten, nie.
Das Schwierigste war gewesen, eine ihr nahestehende Person zu finden, die einen ebenso detaillierten Fragebogen über sie beantworten würde. Peter wollte sie nicht um diesen Gefallen bitten. Schließlich hatte Poppy ihren Vater angerufen.
«Dazu musst du aber schon bei mir vorbeikommen», hatte er gesagt. Ihr Vater hatte sich nach der Pensionierung im Tessin niedergelassen, zusammen mit seiner Partnerin Eva. Es sprach es aus, als ob es ein Wort wäre, ein russisches: Partnerineva.
Poppy fuhr mit dem Zug durch den Gotthardtunnel und wurde von strömendem Regen begrüßt, was ihr eine eigenartige Genugtuung verschaffte. Ihr Vater hatte sich nie wieder bei ihr gemeldet. Nicht als sie geheiratet und Kinder bekommen hatte, nicht bei ihrer Scheidung oder Verhaftung. Zweimal pro Jahr schickte er ihr einen Scheck, zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag. Ansonsten hatte er sie abgeschrieben, als er sie damals in den Zug nach Paris gesetzt hatte. Nach dem Tod von Poppys Mutter war er frei gewesen, um mit seiner Partnerineva zusammenzuziehen, die, so wurde Poppy später klar, schon länger hinter den Kulissen auf ihn gewartet haben musste. Sie hatten für dieselbe Versicherungsgesellschaft gearbeitet, sich immer wieder versetzen lassen, waren quer durch die ganze Schweiz gezogen, bis sie schließlich im Tessin gelandet waren.
Poppy hatte ihrem Vater nie verziehen.
Er ihr offenbar auch nicht. «Dass du mich mal besuchen kommst!»
«Und du?»
Er war schmächtiger, als Poppy ihn in Erinnerung hatte, gebückter. Beim Gehen suchte er Halt an der Wand. Seine Partnerineva war ein paar Jahre jünger als er. Sie trug eine altmodisch toupierte und festgesprayte Hochsteckfrisur aus blondgesträhntem Haar, eine Perlenkette. Die Eigentumswohnung an der Seepromenade wirkte ordentlich und sauber wie ein Hotelzimmer.
Poppys Vater setzte sich an den runden Esstisch, der mit einem durchsichtigen Plastiktuch belegt war, und breitete die Unterlagen aus. «So, dafür gibt es jetzt also einen Namen», sagte er gehässig. «Heute gibt es für alles einen Namen. Früher hätte man einfach gesagt: ‹Gib dir ein bisschen mehr Mühe!›»
«Genau das hast du ja auch immer gesagt. Es hat nur nichts genützt.» Poppy ging in die Küche, wo Partnerineva vor einem Glas mit einer roten Flüssigkeit saß. Am Kühlschrank hingen ein paar Schnappschüsse. Eva und Poppys Vater beim Wandern (ein Sonnenhut balancierte hoch auf ihrem toupierten Haar), auf einer Terrasse sitzend, sich mit Wein zuprostend, tanzend. Die Bilder waren zeitlich schwer einzuordnen, da sich Evas Frisur und Kleidung in all den Jahren nicht verändert hatten. Der Stil ließ auf die frühen siebziger Jahre schließen. Da hatte Poppys Mutter aber noch gelebt. Poppy dachte an all die Mittagessen, die er bei seiner Mutter eingenommen hatte, an
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