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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Kisten nicht alle allein auspacken!»
    «Ist das deine Mutter?»
    Stefanie schüttelte unsicher den Kopf. «Stiefmutter», flüsterte sie.
    «Deine Stiefmutter ist der Doktor! Kannst du nie krankspielen, was?»
    «Könnte schlimmer sein, sie könnte Lehrerin sein!»
    Wieder das Wiehern. Beim Wort Lehrerin dachte Marie sofort an Ted. Sie lächelte. Dieses Gefühl, dieses große, helle, leichte, war immer da, klein zusammengefaltet in ihr. Beim leisesten Hauch eines Gedankens an Ted blähte es sich auf wie ein Segel und füllte sie aus.
    «Seid ihr heute eingezogen?», fragte einer der jungen Männer.
    «Ja, und unsere Wohnung steht voller Kisten. Stefanie, komm jetzt, ich brauche deine Hilfe.»
    «Ich kann auch helfen, Frau Doktor», sagte der Junge. «Ich bin stark!» Er schob seinen Ärmel hoch und zeigte einen dünnen Bizeps. Die anderen lachten laut, doch sie standen auf und folgten ihnen zum Hauseingang. Marie spürte, wie Stefanies Körper steif wurde neben ihrem. Sie wollte den Arm um sie legen, aber sie tat es nicht.
    Stunden später saßen sie um den langen Tisch und aßen Pizza. In den schwarzen, vorhanglosen Fensterscheiben spiegelten sich die Lichter der Siedlung.
    «Gute Arbeit», lobte Martin die jungen Männer, die konzentriert und schnell die Kisten ausgeräumt, die Möbel zusammengeschraubt, das Verpackungsmaterial entsorgt hatten. Die Mädchen hatten sich unterdessen auf Stefanies ungemachtem Bett eingerichtet, jedes Kleidungsstück einzeln hervorgezogen, kommentiert, im Kreis herum anprobiert und schließlich irgendwo hingeworfen. Jetzt saßen sie um den Tisch, zu zweit auf einem Stuhl, Marie hatte die Schreibtischstühle dazugeholt, die Küchenhocker. Sie nahm sich ein Stück Pizza und schaute sich die Gesichter an, eins nach dem anderen. Ihre Nachbarn. Ihre Patienten. Ihr Vater, der besorgt die Stirn runzelte. Marie lächelte.
    «Siehst du nun?», sagte sie. «Ich bin nicht allein.»

 
    karm āś ukl ā k ṛṣṇ a ṃ yoginastrividhamitare ṣā m
    Die Handlungen der Yogi sind weder schwarz
    noch weiß und auch nicht
    schwarz-weiß wie die der anderen.
    Patanjali Yoga Sutra 4 . 7

     
Nevada
     
    Nevada blickte in den Spiegel und sah ihren Vater. Die dunklen Haare, die kantigen Backenknochen, die geschwungene Oberlippe. Mit dem Handrücken wischte sie über das beschlagene Glas. Das Gesicht ihres Vaters schaute ihr entgegen, überlagerte ihres um wenige Millimeter verschoben. Ihre von der Dusche nassen Haare kräuselten sich, Nevada öffnete den Badezimmerschrank, um ihre Haarbürste herauszunehmen. Die Spiegeltür schwang ihr entgegen, die beiden Gesichter fielen auseinander und starrten sie für den Bruchteil eines Augenblicks beide gleichzeitig an. Vier schwarze Augen. Sie griff nach der Bürste und schloss die Tür so schnell wieder, dass sie sich beinahe die Hand einklemmte. Die Gesichter rutschten wieder übereinander, aber weniger genau als vorhin. Grob hieb Nevada mit der Bürste auf ihr nasses Haar ein, trieb die Borsten in ihre Kopfhaut, zerrte, zog. Sie striegelte ihre langen Haare glatt, doch immer wieder kräuselte sich die Mähne des Vaters um ihren glattgestrählten Kopf wie ein Unheiligenschein. Nevada ließ die Bürste sinken und begann zu weinen.
    Nie würde sie ihn loswerden. Ihren Vater. Er steckte in ihr drin. Sie war gezeichnet, gebrandmarkt, verdorben. Also doch. Ihr Vater lebte in ihrem Gesicht, schlimmer noch, die Mutter ihres Vaters.
    «Du siehst ja bald aus wie deine Oma», hatte Beni immer wieder zu ihr gesagt, abschätzig. Nevada war früh in die Pubertät gekommen, mit zwölf hatte sie ihre Periode gehabt, früher als die anderen Mädchen in ihrer Klasse, und erst recht als die im Ballettunterricht. Gleichzeitig begannen ihre Brüste zu wachsen. Ihr Vater registrierte es als Erster, und er wurde wütend. Als wären ihre Knospen gegen ihn persönlich gerichtet. «Pass bloß auf, dass du nicht so große Brüste bekommst wie die Oma», sagte er immer wieder gehässig.
    Die Brüste hatten Nevada ihre Sonderrolle gekostet. Beni nahm es ihr übel, dass sie das Lager gewechselt hatte. Dass sie eine Frau geworden war. Sie hatte ihn verraten, ließ er sie spüren. Er wandte sich von ihr ab. Und so sehr Nevada sich das jahrelang gewünscht hatte, so sehr verletzte es sie, als es wirklich geschah. Als ihr Wunsch sich erfüllte, als ihr Vater sie in Ruhe ließ. Jetzt war sie ganz allein. Die Aufmerksamkeit ihres Vaters mochte eine ungebetene gewesen sein, eine ungesunde,

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