Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Trottoirs, auf denen Kinder Fahrrad fuhren und niemand zu Fuß ging. Nevada musste ihren sechzehnten Geburtstag abwarten und dann die Fahrprüfung bestehen, um die Kinder in die Vorschule, zu Musiklektionen und zum Fußballtraining zu chauffieren. Um für die Familie einzukaufen: Der nächste Supermarkt war fast zehn Meilen weit entfernt, ein Einkaufszentrum, das den Übergang zwischen zwei Vororten markierte, dort befand sich auch die chemische Reinigung, die Post, das Kino, verschiedene Fast-Food-Restaurants. Nevada musste die Fahrprüfung bestehen, um den in ihrem Vertrag vorgeschriebenen Englisch-Unterricht besuchen zu können.
«Wie kann das sein, dass du nicht Auto fahren kannst?», schrie Mindy, die blonde Mutter, am ersten Abend verzweifelt.
«Niemand hat danach gefragt.»
«Aber das versteht sich doch von selbst! Jeder kann schließlich Auto fahren!»
«In der Schweiz darf man erst mit achtzehn …»
Mindy schüttelte den Kopf. «So etwas Idiotisches habe ich noch nie gehört», sagte sie. «Was für ein Land! Du kannst froh sein, dass du jetzt hier bist!»
Nevada bekam einen Lernfahrausweis und wurde an ihrem Geburtstag, zwei Wochen später, zur Prüfung angemeldet. Mindy fuhr mit ihr die Straßen hinauf und hinab, es schien Nevada kein großes Problem zu sein, der Familienwagen hatte eine automatische Schaltung, die Straßen waren schnurgerade und breit genug. Zum Parken musste man nur langsam an den Straßenrand rollen und den Motor abstellen. Platz gab es genug. Mindy besorgte ihr ein Büchlein, in dem alle Verkehrsregeln standen, und einen Stapel Probeprüfungen. Sie machte es sehr klar, dass Nevada nur bleiben konnte, wenn sie die Fahrprüfung bestand.
Nevada bestand nicht. Sie bestand die theoretische Prüfung zwar knapp, fuhr dann aber beim praktischen Teil über eine Kreuzung, ohne das Stoppzeichen zu beachten. Ebenso wenig wie die hektischen Schreie des Experten. Sie schoss in die Kreuzung hinein und frontal in einen von rechts kommenden Kleinwagen. Der Experte erlitt schwere innere Verletzungen und musste operiert werden. Das Lokalfernsehen berichtete über den Unfall. Nevada würde die Fahrprüfung im Staat Illinois nicht wiederholen können. Und auch Mindy musste sie entlassen.
Nevada war sechzehn Jahre alt. Sie hatte ein Visum für ein Jahr und das Geld von ihrem Sparkonto, außerdem tausend Schweizer Franken, die ihre Mutter ihr kurz vor der Abreise mit den Worten «Damit muss es aber genug sein!» zugesteckt hatte. Nevada nahm einen Bus und fuhr nach New York. In New York musste sie nicht Auto fahren. Sie wurde von einer Familie eingestellt, deren Kinder den ganzen Tag in der Schule waren. Nevada begleitete sie morgens zu Fuß quer durch den Park und auf die andere Seite der Stadt, holte sie nachmittags um drei wieder ab. Sie reihte sich auf dem Trottoir zwischen die anderen Kindermädchen und Mütter. Zwischen neun und drei gehörte der Tag ihr. Die Wohnung wurde geputzt, das Essen geliefert, es gab für Nevada nicht viel zu tun. Sie begann, in den leeren Räumen zu tanzen. Ihr Zimmer war kleiner als ein Schrank, sie konnte sich kaum an dem schmalen Bett vorbei zum Fenster zwängen, das sich nicht öffnen ließ. Deshalb übte sie im leeren Foyer, sie benutzte eine niedrige Balustrade als barre , sie exerzierte ihre Ballettetüden durch, plié, relevé, battu … Sie dachte sich kleine Choreographien aus, sie schlitterte auf dicken Wollsocken über den glatten Marmorboden, der sie an ihre Wohnung zu Hause erinnerte, bevor ihre Mutter überall gefederte Holzböden hatte verlegen lassen.
Eines Tages kam Gwen früher als erwartet nach Hause – ihr Friseur hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt, ihr Haar war noch nass – und fand Nevada auf einem Bein stehend vor. Der andere Fuß reckte sich von hinten zum Kopf, sie hielt ihn mit einer Hand fest, während sie die andere auf Schulterhöhe ausgestreckt hielt und fragend in die Ferne deutete.
«Oh my god!» , schrie Gwen. «Du hast mir gar nicht gesagt, dass du Yoga machst!»
«Yoga?», fragte Nevada und ließ ihren Fuß los. Sie streckte ihn auf halber Höhe erst nach hinten, dann zur Seite aus, bevor sie ihn sanft absetzte, schwerelos.
« Oh my god! Das muss ich meinen Freundinnen erzählen, warte nur, die werden ausflippen!»
Nevadas Englisch war, da sie kaum je mit jemandem redete, noch nicht gut genug, um einer Unterhaltung in New Yorker Tempo zu folgen. Wie ein weit entfernter Nachrichtenkorrespondent am Fernsehen antwortete sie
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