Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Haaransatz feucht. Sie ging in die Hocke, sammelte ihre Sachen ein. Sie blickte auf und sah ihn an.
Er saß an einem kleinen Tisch am Fenster und schaute ihr zu. Sein Blick war weder amüsiert noch mitleidig, noch ungeduldig. Er schaute ihr nur zu, wie man einer Kuh beim Grasen zuschaut. Ihre Blicke trafen sich, er hob die Hand, sie nickte.
Als sagte sie da schon ja.
Als sie vor ihm stand, erhob er sich. Sie streckte die Hand aus, er nahm sie, neigte sich ihr entgegen, er wollte sie zur Begrüßung küssen, ihr Kopf schnellte vor, ihre Backenknochen stießen aneinander. Seine Haut fühlte sich sofort wieder richtig an. Und vertraut.
«Wie schön, dich zu sehen», sagte er. Er sagte es ernst. Als meinte er genau das. Er trug einen dunklen Anzug, eine unmodische Brille, einen braunen Schal. Nichts davon passte zum anderen.
«Ja», sagte sie und setzte sich. Erst als sie ihre Tasche ablegen wollte, wurde ihr bewusst, dass er immer noch ihre Hand hielt. Sie hatte es gar nicht gemerkt. Es war, als sei seine Hand ebenso ein Teil von ihr wie ihre eigene. Einen Augenblick lang schauten sie beide auf die ineinanderverschränkten Finger, dann lösten sie sie verlegen.
«Ja», sagte er.
Und sie: «Ich hab nur bis halb sieben Uhr Zeit, Viertel vor, höchstens.»
«Das hast du gesagt. Was möchtest du trinken?»
«Grüntee.»
Er stand auf und ging zur Theke. Reihte sich in die kurze Schlange ein, zwischen Hipstern in engen Polyesterjäckchen und tiefhängenden Röhrenhosen, zwischen jungen Müttern, Kinderwagen und Hunden. Seltsam ungerührt stand er da in seinem blauen Anzug. Kurz bevor er an die Reihe kam, drehte er sich um und lächelte Poppy zu. Es war alles, wie es immer gewesen war. Nur dass sie jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, glücklich in diese Vertrautheit zurücksank, die sie damals so irritiert hatte.
Er kam mit der bauchigen Tasse an den Tisch zurück. «Du nimmst keinen Zucker, nicht wahr?»
«Nein.»
Er lächelte. «Also», sagte er.
Also gehen wir. Gehen wir nach Hause, wir haben genug Zeit verloren. Ich war dumm, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch müde. Ich möchte nach Hause. Und zu Hause bin ich bei dir.
«Wie ist es dir ergangen?», fragte Poppy stattdessen und rührte in ihrem Tee. Sie legte beide Hände um die Tasse, die zu heiß war dafür. Hätte sie bloß nicht gefragt. Wolf legte ein Bild auf den Tisch, das Hochzeitsfoto, das sie von der Internetseite kannte.
«Ich habe geheiratet. Kim ist Amerikanerin. Ich habe sie vor zehn Jahren kennengelernt, als ich als Gastdozent in Houston war. Damals war sie allerdings noch mit ihrem ersten Mann verheiratet.»
«Sie ist sehr schön», sagte Poppy. Sie schielte auf das Bild, ohne es in die Hand zu nehmen, sie hatte es auf dem Computerbildschirm schon eingehend studiert. Kim war blond und breitschultrig und gesund. Sie hielt Wolfs Arm so fest, dass seine Smokingjacke Falten warf unter ihren Fingern. Die Blumen schienen in ihrem Arm zu zittern.
«… und dann sagte sie, dass sie unterdessen geschieden sei. Eigentlich hatten wir vor, in Amerika zu leben, aber dann wurde mir diese Stelle hier angeboten, da konnte ich nicht nein sagen. Außerdem geht es meiner Mutter nicht gut, sie ist jetzt über achtzig, weißt du, sie lebt allein, seit mein Vater gestorben ist.»
Poppy erinnerte sich nicht an Wolfs Eltern. Damals hatten sie beide so getan, als hätten sie keine.
«Es ist nicht einfach für sie», sagte Wolf jetzt.
«Für deine Mutter?»
«Für Kim. Sie kennt hier niemanden, sie kann nicht arbeiten, und ich komme immer so spät nach Hause. In der Wirtschaft herrschen ganz andere Gesetze als im akademischen Bereich, weißt du. Da kannst du nicht einfach um fünf sagen, ich muss jetzt nach Hause, Feierabend.»
«Ach so.» Mit ihr hatte er sich aber schon um halb sechs getroffen, und war dafür erst noch in eine andere Stadt gefahren. Poppy fühlte eine seltsame Befriedigung. Für sie hörte er früher auf zu arbeiten. Für Kim nicht.
«Katholischer Feiertag.»
«Wie bitte?»
«Ich sagte, zum Glück ist heute ein katholischer Feiertag, deshalb habe ich frei. Das weiß Kim nicht. Ich gehe frühmorgens aus dem Haus wie immer, ich trage einen Anzug. Ich benutze alle diese Feiertage zum Ausspannen.»
«Zum Ausspannen?»
«Das klingt nicht gut, ich weiß. Ausspannen von der Ehe … Dabei liebe ich Kim. Ich liebe sie wirklich. Es wäre schön, wenn ihr euch kennenlernen würdet. Sie hat keine einzige Freundin in der
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