Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
universale Grundgesetz, nach dessen Regeln alles beschaffen ist und zusammenhängt, Dharma . Der Begriff steht aber auch für die buddhistische Lehre, da Buddha sich seinerzeit die Mühe gemacht hat, die Struktur ebendieses universalen Grundgesetzes zu untersuchen, zu beschreiben und zu erklären. Und in der Bhagavad Gita schließlich erklärt Krishna, dass es die Aufrichtigkeit jedes Einzelnen ist, welche die Welt in Ordnung hält. Daraus leitet er ab, dass jedes Wesen einen Lebensweg zu beschreiten hat, der dem Gemeinwohl dient und gleichsam zur persönlichen Erlösung führt. Vielleicht ist es dein Lebensweg, ein Taxi zu fahren. In diesem Fall ermöglicht dir Yoga, dein Taxi mit größter Hingabe und Achtsamkeit zu fahren.»
«Hm.» Man konnte Lakshmi deutlich ansehen, dass sie nicht die geringste Absicht hegte, ein Taxi zu fahren.
«Vielleicht ist es mein Dharma , Yoga weiterzugeben», sagte Nevada an diesem Abend im Hotelzimmer, als sie beide zu müde waren, um auf das hohe weiche Bett zu klettern und mit schweren Beinen auf dem Teppichboden sitzen blieben.
Lakshmi rollte einen Joint. «Kraut der Götter», sagte sie, als Nevada zögerte.
Und tatsächlich löste sich ihre Müdigkeit im Rauch auf, und sie schlossen einen Pakt. Zusammen würden sie ihr Dharma erfüllen. Sie würden ein Yogastudio eröffnen, wie es die Schweiz noch nicht gesehen hatte. Lakshmis Geld und Nevadas unermüdliche Hingabe würden es möglich machen.
Und jetzt das.
Yogalehrerinnen wurden nicht krank. Yogalehrerinnen hatten keine unerklärlichen Schmerzen. Nicht wenn sie genug Yoga machten und wenn sie es richtig machten. Nevadas Leiden hing wie ein übler Geruch im Studio, fast wie der Geruch ihres vergammelten Vaters damals zu Hause.
Nadine wich ihrem Blick aus. Wenn Nevada ein neues Top vom Bügel nahm und beiläufig verkündete, sie würde das mal anprobieren, rief Nadine hinter der Kasse hervor: «Soll ich es mit deinen Stunden verrechnen?» Oder, noch schlimmer: «Das hat sich Oona schon reserviert.»
Auf einer Metalltafel hinter der Theke wurde mit Buntstift vermerkt, wie viele Schüler welche Klasse bei welcher Lehrerin besuchten. Nevada hatte sich nicht daran gestört, solange ihr Name immer zuoberst auf der Liste gestanden hatte. Jetzt, wo sie weiter und weiter nach unten gerutscht und schließlich auf dem letzten Platz gelandet war, empfand sie die Liste als Kränkung. Es erinnerte sie an einen Film, den ihr Vater geliebt hatte: Tin Men. Vertreter eine Automarke, die mit allen Mitteln um den Platz des Verkäufers der Woche kämpften, und vor nichts zurückschreckten. War das im Yoga wirklich nicht anders?
Kurz nach drei betrat Nevada die Bar am Fluss. Der runde Tisch in der Ecke war bereits voll besetzt. Die leeren Schüsselchen und die ausgedrückten Teebeutel auf den Untertellern zeigten Nevada, dass die Zusammenkunft schon seit längerem im Gang sein musste. War das Treffen verschoben worden? Warum hatte ihr niemand Bescheid gegeben? Nevada hatte seit einiger Zeit nicht mehr an den nachmittäglichen check-ins teilgenommen, zu denen sich alle an diesem Tag unterrichtenden Yogalehrer einfanden. Meist wurde ohnehin nur der neueste Yoga-Klatsch ausgetauscht. «Hast du gehört, John Friend gastiert in Zürich?» – «Warst du letzten Sonntag auch am Konzert von Krishna Das?» – «Jemand hat mir erzählt, dass Patrick Broome inkognito eine Stunde bei Sherry besucht hat, und sie hat ihn voll vor allen anderen korrigiert! Sie hat ihn nicht mal erkannt!» Stattdessen legte sie sich zwischen ihren Stunden auf einen Stapel weicher Yogamatten. Eine Prinzessin auf der Erbse.
Sie trat an den Tisch, und die Gespräche verstummten. Mitfühlende Blicke, schräggelegte Köpfe.
«Wie geht es dir, Nevada?», fragte schließlich Dolores in einem Ton, der nahelegte, dass die Antwort nur «Scheiße» lauten konnte. Natürlich sagten Yogalehrerinnen nicht «Scheiße». Schon gar nicht so junge, enthusiastische, frischgebackene, wie sie heute am Tisch saßen.
«Jeder Tag ist ein neuer Tag», antwortete Nevada vage.
«Wir haben gerade über dich gesprochen.»
«Was du nicht sagst.» Nevada schob mit dem Knie einen Stuhl heran und setzte sich umständlich.
Oona schaute sie mit großen Augen an. Kuhaugen, dachte Nevada gehässig. Sie behandelten sie wie eine Invalide. Was sie ja auch war.
«Soll ich dir etwas bestellen, was möchtest du denn gern?»
Einen doppelten Espresso, dachte Nevada, die manchmal den schwer bezwingbaren Drang
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