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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Wiederholungen und anfeuernden Zwischenbemerkungen aufgeschrieben hatte.
    « Come on, come on , eine geht noch, nur noch eine Wiederholung, ihr seid starke Frauen, unbesiegbar! Los, lasst die Göttin raus – juhuuu!»
    «Juhuuu!», keischten die Frauen, atemlos.
    Später, als sie anfing, Yoga zu unterrichten, dachte Nevada oft an diese Stunden zurück. Wie ihre Mutter studierte sie eine genaue Abfolge ein, eine Choreographie, sie platzierte ihre Bemerkungen, die sich nur inhaltlich änderten, an den immer gleichen Stellen. Heute wie damals verließen sich ihre Schüler auf diese vorhersehbare Abfolge, sie lehnten sich in sie zurück wie in einen vertrauten Arm.
    Am Abend bevor Nevada nach Amerika flog – sie würde die Zwillinge einer Arztfamilie in einem Vorort von Chicago hüten –, beschwerten sich mehrere Frauen über einen unangenehmen Geruch in der Garderobe. Martha bat Nevada, die dahinterliegende Toilette zu kontrollieren, die leicht verstopfte. Doch die Toilette war sauber. Die nächste Stunde würde gleich beginnen. Ihre Mutter scheuchte ihre Kundinnen in den großen Saal, während Nevada schnüffelnd den Flur entlangging. Der Geruch kam aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie klopfte, sie rief, schließlich öffnete sie die Tür. Der Geruch war überwältigend. Die Tür ließ sich kaum bewegen. Nevada warf sich mit ihrem ganzen Leichtgewicht dagegen. Schließlich war der Spalt groß genug, dass sie sich hineinzwängen konnte. Der Raum war knöcheltief mit Abfall gefüllt. Der Boden mit Pizzaschachteln, Sandwichverpackungen, leeren Flaschen, Bierdosen, zerlesenen Zeitungen, schmutzigen Kleidern übersät. Toilettenpapier. Nevada machte einen vorsichtigen Schritt und stand auf etwas Weiches. Es quiekte. Raschelte. Irgendwo bewegte sich etwas. Das Fenster war verschlossen. Nevada hielt sich den Ellbogen vor Nase und Mund und kämpfte sich mit angehaltenem Atem durch den Raum. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie ihren Vater zuletzt gesehen hatte. Er musste sich seit Tagen direkt hier entleert haben. Sie riss das Fenster auf und schnappte nach Luft. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie stemmte sich auf das Fensterbrett hoch und blickte über das Zimmer. Die türkisblaue Farbe des Cadillacs blitzte hier und da unter den Abfallbergen, den Stoffhaufen hervor. Das Gesicht ihres Vaters, dunkelrot angelaufen, die Lippen beinahe blau. Das weiße Haar an den Schädel geklebt. Sie konnte ihn nicht atmen hören. Aus dem vorderen Teil der Wohnung dröhnten die peitschenden Rufe, die Nevada unterdessen in ihrem Kopf gespeichert hatte, die sie im Schlaf mitsummen konnte.
    «Und eins und zwei und drei und vier – come on, ladies ! Einmal noch, ihr könnt das, ihr seid stark, ihr seid schön, ihr seid unbesiegbar!»
    «Juhuuu!»
    Sie würde ihrer Familie nicht entkommen. Nie. Die Welt war nicht groß genug. Sie wollte sich rückwärts aus dem Fenster fallen lassen, auf die stille Quartierstraße, vier Stockwerke tief, zwischen alte Bäume, und niemand konnte mehr etwas von ihr verlangen. Niemand konnte von ihr verlangen, dass sie einen Krankenwagen rief, dass sie ihren Vater rettete, dass sie ihn gesund pflegte, dass sie die Sauerei beseitigte, die sein Leben geworden war. Wer sollte es sonst tun? Martha bestimmt nicht.
    Sierra war entkommen. Nevada nicht. Wegen zwölf Stunden nicht. Sie saß auf dem Fensterbrett, sie schaukelte vor und zurück, sie wimmerte leise. Es gab keinen Ausweg.
    Aus dem alten Cadillac kam ein Geräusch. Eine Mischung aus Grunzen, Aufstoßen und Würgen. Sie konnte das Zimmer auch einfach wieder verlassen. Sie konnte ihrer Mutter sagen, sie habe den Schaden in der Toilette nicht beheben können, morgen würde ein Handwerker vorbeikommen. Morgen, wenn Nevada weg war. Der Mann würde die Toilette durchspülen und nichts finden. Martha würde dem Geruch nachgehen. Sie würde alle Türen öffnen. Nevada konnte dann schon in der Luft sein. Sie konnte nichts gesehen haben. Das hatte sie schließlich gelernt. Nicht hinzuschauen.
    Am nächsten Morgen sehr früh rief Nevada einen Notfalltechniker an, der versprach, in einer halben Stunde zu kommen. Sie weckte ihre Mutter und verließ die Wohnung, gerade als der Lieferwagen mit der Aufschrift Die Scheiße stinkt zum Himmel, dann ruf den Notfall-Grimmel! in ihre Straße einbog.
    Nevada flog nach Amerika. Ihre Gastfamilie lebte sehr weit außerhalb von Chicago. In dem Vorort gab es nichts. Nur die Häuser, die Rasenflächen, die Straßen mit den breiten

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