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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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glaubwürdig simulieren. Die Bakterien in der Urinprobe allerdings auch nicht. Die Frau musste also Schmerzen haben. Aber sie zeigte sie nicht. Sie hatte drei Stunden gewartet, bis sie endlich drangekommen war, und war dann nach einer kurzen Untersuchung mit einem Rezept für Antibiotika wieder gegangen. Warum hatte sie nicht ihren Hausarzt angerufen? Er sei in den Ferien. Und die Vertretung?
    Die Krankenkasse verlangte, dass ihre Versicherten sich in solchen Fällen an eine telefonische Beratungsstelle wandten, die entscheiden würde, ob ein Besuch in der Notaufnahme angebracht war. Das wäre in diesem Fall kaum passiert, doch die Patientin hatte sich nicht an das Vorgehen gehalten. Marie überlegte sich, wie sie ihren Bericht formulieren musste, damit der Patientin der Besuch in der Notaufnahme trotzdem vergütet würde.
    Tote Augen. Chronische Unterleibsbeschwerden. Kosovo. Marie konnte nicht verhindern, dass sie automatisch an Berichte über vergewaltigte Frauen dachte, traumatisches Stresssyndrom. Doch die Frau war zu jung. Sie hatte den Krieg nicht miterlebt. Sie hatte einen Schweizer Mann, einen Schweizer Pass. Marie hatte den Fall in der Teamsitzung besprechen wollen, doch Huber hatte ein interessanteres Anliegen gehabt, und sie war nicht mehr dazu gekommen.
    «Hörst du mir überhaupt zu?»
    Marie riss sich zusammen. Auf dem Bildschirm lief Werbung. Kugeln aus weißer Schokolade wirbelten schwerelos durch ein weißes Zimmer voller glücklicher Menschen.
    «Marie. Das ist jetzt wichtig. Meine ganze Karriere steht auf der Kippe – und nicht mal jetzt kannst du dich mir zuwenden? Siehst du nicht, dass ich dich brauche?»
    «Ich bin doch da», sagte Marie. «Ich bin da.» Sie rutschte näher, schmiegte sich an ihn, legte eine Hand zwischen seine Beine, ganz automatisch, wie um sich zu vergewissern, dass alles noch da war. Und noch ihr gehörte.
    Gion schob ihre Hand weg. «Manchmal bist du echt primitiv!»
    Marie zuckte zusammen.
    «Du kannst ja nichts dafür», sagte Gion schnell. «Als Ärztin bist du nun mal im Grobstofflichen verhangen. Aber du kannst dich doch weiterentwickeln. Dann könnten wir uns auch wieder näherkommen. Auf einer subtileren Ebene! Ich wünschte mir das, echt.» Jetzt erklang wieder die aus drei Tönen bestehende Erkennungsmelodie der Talkshow.
    «Und nun kommt der Augenblick, auf den Sie alle gewartet haben», strahlte Fiona mit einer Begeisterung, die auch nach zwanzig Jahren auf Sendung nicht verbraucht wirkte. « Die Vorstadtklinik hat ihre Tore für immer geschlossen. Zuschauer und Darsteller sind gleichermaßen schockiert. Nur einer trägt es mit Fassung, und er wird uns hier exklusiv und erstmalig das Geheimnis seiner Gelassenheit verraten. Bitte begrüßen Sie Gion Camenisch!»
    Tusch. Gion trat ins Bild. Er trug einen schilfgrünen Anzug aus fließendem Stoff, ein türkisfarbenes T-Shirt und eine Mala aus Holzperlen um den Hals. Er ging langsam, viel langsamer als die anderen Gäste. Als hätte er alle Zeit der Welt. Milde lächelnd wandte er sich dem Publikum zu, das tobte. Marie meinte, Frauen kreischen zu hören. Die Talkmasterin ging Gion entgegen. Als sie vor ihm stand, legte er beide Hände zusammen, hob sie an die Stirn und verneigte sich. Fionas ausgestreckte Hand blieb in der Luft hängen.
    « Namaste », sagte Gion.
    «Okay», antwortete Fiona verwirrt und wies auf die weiße Couch. Gion setzte sich, streifte mit einer eleganten Geste seine Schuhe ab und brezelte dann gelenkig seine Beine auf die Sitzfläche.
    «Du erlaubst», sagte er, «ich kann schon gar nicht mehr anders sitzen!»
    Marie erlaubte sich einen Seitenblick. Hier auf ihrem roten, nagellackverschmierten Sofa saß er ganz normal.
    «Schscht!», machte Gion.
    «Ich hab doch gar nichts …»
    «Schscht!»
    «Wenn ich kein Yoga machen würde, wäre ich mit dem Schock vermutlich auch anders umgegangen», sagte Gion in der Sendung.
    «Kannst du das erklären?»
    «Yoga trainiert das Aushalten schmerzhafter oder schwieriger Positionen. Wenn du deinen Körper jeden Tag zwei Stunden lang in scheinbar unmögliche Stellungen verrenkst, dann kann dir so eine Veränderung deines Alltagslebens auch nichts mehr anhaben. So eine Kündigung ist dann keine existenzbedrohende Katastrophe mehr, sondern einfach eine schwierige Asana , eine neue Position, die du erst lernen musst, bevor du sie perfekt beherrschst. Yoga macht beweglich, verstehst du, Fiona, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. You go with the flow!

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