Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
ihr werden sie angerechnet, das finde ich nicht fair, aber Nadine will Lakshmi nichts sagen, weil sie natürlich ihre Stelle nicht gefährden will …»
Lilly, das hatte Ted unterdessen herausgefunden, arbeitete in einer PR-Agentur. Was sie dort genau machte, hatte er allerdings nicht verstanden. Es befriedigte sie auch nicht wirklich. Deshalb hatte sie sich für die Ausbildung zur Yogalehrerin angemeldet. Sie wollte etwas Sinnvolles tun. «Außerdem ist Yoga meine Bestimmung. Ich spüre das einfach.» Lilly besuchte beinahe jeden Abend nach der Arbeit eine Yogastunde. Manchmal wartete sie am Montagabend in der Bar am Fluss auf ihn, wenn er aus Nevadas Anfängerstunde kam. Einmal hatte er Emma mitgebracht. Sie würde mit Lilly auf ihn warten, hatte er sich vorgestellt, sie würde ein Käseomelett essen und Ketchup dazu verlangen, sie würde an einem der großen Holztische sitzen und ihre Schularbeiten machen. Lilly würde ihr mit ihrer zarten Hand übers Haar fahren und ihr helfen, die Zahlenreihen mit den richtigen Farben auszumalen. Und wenn er dann aus der Stunde käme, würde er sie dort sitzen sehen, seine beiden Mädchen … Frauen … Als er Lillys Gesicht sah, wusste er, dass er falsch gedacht hatte. Er hätte sie zumindest fragen müssen. Das sah er jetzt ein. Aber zu spät. Er hatte Taras Mutter gefragt, ob sie Emma jeweils am Montag nach der Schule abholen und bis zum Abendessen bei sich behalten könnte. Tara wohnte ganz in der Nähe der Fabrik am Fluss. Ihre Mutter, Sandra, war sofort dazu bereit gewesen.
«Das finde ich ganz wichtig, dass du in dieser Situation auch etwas für dich tust», sagte sie mit schräggelegtem Kopf und mitfühlendem Blick.
Und du, was tust du für dich?, wollte Ted fragen. Bist du nicht in derselben Situation wie ich? Aber er ließ es bleiben. Er verpasste die Stunde am Montagabend nur ungern. Vor allem, seit Nevada angefangen hatte, die Sutren von Patanjali durchzunehmen. Plötzlich war es nicht mehr wichtig, wie gut er war. Wie tief er seinen Rücken beugen, wie hoch er seine Hände strecken konnte. Sie hatte die Stunde damit begonnen, dass sie mit dünner, brüchiger Stimme vorgesungen hatte: «Yamaniyamasanapranayamapratyahara dharanadhyanasamdhayo‚ stavangani …»
Ted war es gewohnt, mit lauter, klarer Stimme zu singen. Es war ihm peinlich, dass seine Lehrerin nicht singen konnte. Beim gemeinsamen «Om» versuchte er, sie zu übertönen, den Klang länger zu halten als alle anderen.
«Das ist das Sutra 2.29. Es zählt die acht Glieder des Yoga auf», hatte sie erklärt. «Nämlich: Yama – die Regeln des zwischenmenschlichen Verhaltens. Niyama – Regeln für das Verhalten im Alltag. Asana – die Praxis der Körperübungen. Pranayama – die Praxis der Atemübungen. Prathyahara – das Ausschalten der Sinneswahrnehmungen. Dharana – die Konzentration auf ein bestimmtes Objekt. Dhyana – das Herstellen einer Verbindung zwischen dem Geist und dem Objekt der Aufmerksamkeit. Samadhi – die vollkommene Vereinigung mit einem Objekt, das wir verstehen wollen. In unseren bisherigen Stunden haben wir uns auf Asana und Pranayama beschränkt. Doch in dieser Stunde am Montagabend werden wir nun alle acht Bestandteile des Yoga gleichermaßen üben. Außerdem werden wir anfangen, die Sutras zu studieren. Keine Angst, das klingt komplizierter, als es ist!» Sie hatte billige Schulhefte verteilt und ihnen die Aufgabe gegeben, sich über die Yamas Gedanken zu machen.
«Ahimsasatyasteyabrahmacaryapargraha yamah …» Sie hatten ihr den Vers mehrmals nachgesungen. Beim ersten Mal hatte Ted noch alle Stimmen im Raum unterscheiden können. Am lautesten sang Marie, die ihre Matte heute hinter ihm ausgerollt hatte. Ted fragte sich, ob sie gemerkt hatte, dass er ihren Hintern anstarrte, und ob sie deshalb den Platz gewechselt hatte. Er hörte ihre Stimme und sah sie plötzlich auf einem hohen Berg stehen und ins Abendrot hinausjodeln. Er schüttelte den Kopf. Er hatte den Faden verloren. Sie wiederholten das Sutra so lange, bis er die Stimmen nicht mehr unterscheiden, bis er an nichts anderes mehr denken konnte.
«Patanjali Yoga Sutra 2.30: keine Gewalt anwenden, die Wahrheit sagen, nicht stehlen, der absoluten Wahrheit folgen, nicht gierig zugreifen, das sind die Yamas », übersetzte Nevada. «Klingt irgendwie vertraut, nicht? Zu jedem der Yamas gibt es natürlich unterschiedliche Auslegungen. Aber dazu kommen wir später. Schreibt einfach auf, was euch dazu einfällt. Was heißt
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