Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Matura mit siebzehneinhalb und ging als jüngste Medizinstudentin der Schweiz in die Geschichte ein. Sie wollte Ärztin sein. Sie wollte Leben retten, nicht nur physisches Leben, sondern das ganze Leben um den Körper herum, so wie Dr. Vogelsang nicht nur sie gerettet hatte, sondern auch ihre Mutter und vielleicht sogar ihre damalige Lehrerin, die an Marie verzweifelt wäre. Und sie hatte ihren Plan umgesetzt, Schritt für Schritt. Sie hatte keine Freundinnen, sie hatte kein Liebesleben, aber das nahm sie hin. Man konnte nicht alles haben. Das hatte Marie immer gewusst. Bevor sie von Asteya und Aparigraha gehört hatte. Doch offenbar musste sie daran erinnert werden. Denn sie hatte alles vergessen, als Gion in ihr Leben getreten war. Sie hatte nach ihm gegrabscht wie ein gieriges dreijähriges Kind aus dem Einkaufswagen nach den Süßigkeiten greift, die direkt auf seiner Augenhöhe vor der Kasse ausgestellt sind. Nur dass sie ungleich größeren Schaden damit angerichtet hatte. Und dass sie kein dreijähriges Kind war. Sie war eine erwachsene Frau. Mehr noch, sie war Ärztin.
Marie hatte einen Fehler gemacht. «Es tut mir leid, Gion», sagte sie und meinte es ernst. Sie wollte sich der Schuld entledigen. Gion ließ sie nicht. Warum sollte er auch? Warum sollte er es ihr einfach machen?
«Du hast keine Ahnung, was du mir antust mit deiner Negativität. Du ziehst mich dermaßen tief runter, Marie …»
«Ich wollte doch nur helfen. Ein Buch schreiben ist nicht dasselbe wie eine Rolle spielen. Ich habe doch nur gefragt …» Marie verstummte. Sie hörte selber, wie sie klang. Missgünstig. Desinteressiert. Gion hatte recht. Sie hatte nicht zugehört, nicht hingeschaut, es interessierte sie nicht mehr. Sie hatte an ihre Patientin mit den toten Augen gedacht. Und wie Dr. Vogelsang sie behandelt hätte. Und ob sie in einer Hausarztpraxis auf dem Land solche Augen sehen würde.
«Es tut mir leid, Gion», versuchte sie es noch einmal. Sie rutschte näher zu ihm hin. Er stand auf und blieb einen Augenblick so stehen, mitten im Wohnzimmer, still.
«Nun, Marie, ich erzähle dir bestimmt nichts Neues, wenn ich dir sage, dass es Frauen gibt, die nichts lieber tun würden, als mir zuzuhören!»
«Nein», sagte Marie. «Du erzählst mir nichts Neues.»
avidy ā ’smit ā r ā gadve ṣ ¯abhinive śāḥ kle śāḥ
Falsches Verstehen, Selbstbezogenheit,
blindes Begehren, Vorurteil
und Angst, das sind die Plagen
Patanjali Yoga Sutra 2 . 3
Nevada
Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie konnte nicht mehr essen. Sie sah ihn an jeder Straßenecke. In jeder Schaufensterscheibe gespiegelt, jeder flatternde Schal war seiner. Sie konnte nicht mehr atmen und nicht mehr meditieren. Kein anderes Bild hatte mehr Platz in ihrem Kopf als seins. Seine Augen, die sie anschauten. Seine Hände, die sie berührten.
Sie war besessen. Sie wusste es. Er liebt Poppy, sagte sie sich vor wie ein Mantra, immer wieder. Er liebt Poppy. Er liebt Poppy. Sie warf sich im Bett hin und her wie im Fieber. Die Hände zwischen den Beinen. Sie strampelte die Decke weg wie ein trotziges Kind. Einmal noch, jammerte der Körper. Einmal noch, bevor alles vor die Hunde geht!
Immerhin, argumentierte der Körper, sei das seine Bestimmung. Sich zu vereinen und zu vermehren. Nun komm schon! Sie kam.
Wie hatte sie das fünf Jahre lang ausgehalten? Wie hatte sie vergessen können, wie sich das anfühlte, diese unwiderstehliche Kraft, diese Welle, die sie überrollte – warum zum Teufel hatte sie sich eingebildet, sie könne ihr widerstehen? Und warum sollte sie es überhaupt?
Nevada vergaß alles andere. Sie wartete auf den nächsten Montag. Wolf hatte gesagt, er würde wiederkommen. Sie ging früher als sonst in die Yogaschule hinunter, putzte den Raum noch einmal, den Nadine nur oberflächlich gewischt hatte. Sie mochte das Kleinere der beiden Studios, dessen Fensterfront auf den Fluss hinausging. Aus ihrer Umhängetasche nahm sie ein gerahmtes Bild, das Sri Tirumalai Krishmacharya neben seinem Sohn TKV Desikachar zeigte, der die Yoga Sutras neu übersetzt und interpretiert hatte. Eine faustgroße Bronzefigur des schlangenköpfigen Weisen Patanjali. Und, in Ermangelung von Blumen, eine perfekte, runde Orange. Sie baute alles unter dem Fenster auf, und ging dann mühselig in die Knie.
«Danke», murmelte sie. «Danke für diese Anleitung, die mir und meinen Schülern von so großem Nutzen ist …» Doch was sie eigentlich dachte, war: Danke für
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