Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
dachte an die Ausschreibungen: Hausarzt gesucht. Überall. Nicht nur im Dorf, in dem ihre Eltern wohnten. Marie hatte die Liste mit den offenen Hausarztstellen ausgedruckt, sie war lang. Sie könnte wählen. Sie könnte in die Stadt ziehen oder aufs Land. In die Nähe ihrer Eltern oder weiter weg. Wenn sie nicht mit Gion verheiratet wäre.
Immer öfter dieser Gedanke: Wenn ich nicht verheiratet wäre. Sie schämte sich für diesen Gedanken. Liebe hieß doch, alles für den anderen zu tun. Auch zu verzichten. Etwas aufzugeben. Aparigraha , dachte Marie, das fünfte Yama . Nicht gierig zupacken, nicht grabschen, nicht nach etwas greifen, das einem gar nicht zusteht, das man gar nicht braucht. Was brauchte Marie denn? Sie war Ärztin.
Marie war ein gesundes Kind gewesen. Robust. Sie hatte den Hausarzt nur zum Impfen gesehen. Sie hatte keine Angst vor der Nadel gehabt. Sie hatte nicht geweint. Eine ihrer frühesten Erinnerungen war, wie sie auf dem Schoß ihrer Mutter saß und ihr dickes Ärmchen vertrauensvoll der Nadel entgegenstreckte. Sie war vor allem deshalb gern zum Arzt gegangen, weil in seinem Wartezimmer die größte Murmelbahn stand, die sie je gesehen hatte. Es schien endlos zu dauern, bis eine Murmel nach der anderen die verschlungenen Schlaufen hinuntergerollt war, Marie verfolgte ihren Weg mit den Augen und vergaß dabei alles andere. Einmal hatte sie nach der Schule an der Tür der Arztpraxis geklingelt und gefragt, ob sie mit der Bahn spielen dürfe. Die Assistentin hatte gelacht und sie schließlich ins Wartezimmer gelassen. Marie hatte gespielt, bis ihre Mutter sie abholte.
Als Marie in der zweiten Klasse war, platzte ihr Blinddarm. Sie hatte seit Tagen über Bauchschmerzen geklagt, aber weil sie nie krank war und weil sie sehr ungern zur Schule ging, hatte ihre Mutter ihre Klagen ignoriert. Bis sie eines Nachts von Maries Stöhnen aufgewacht war und den Arzt gerufen hatte. Zehn Minuten später stand er an Maries Bett. Seine Hände waren kalt. Er trug einen roten Wollschal und eine Schiebermütze, die er nicht auszog, um Marie zu untersuchen. Er fasste an ihren Hals und an ihren Bauch, und als Marie aufjaulte, hob er sie hoch, mitsamt ihrer Bettdecke, packte sie auf den Rücksitz seines Autos und fuhr sie ins nächste Krankenhaus. Ihre Eltern folgten im Familienwagen. Sie hatten ihre Wintermäntel über ihre Pyjamas geworfen und trugen beide noch ihre Pantoffeln. Maries Mutter weinte so heftig, dass sie nicht sprechen konnte.
Marie wurde noch in derselben Nacht operiert. Als sie aus der Narkose erwachte, stand Dr. Vogelsang neben ihrem Bett. Marie erinnerte sich nicht mehr an den Schmerz. Sie wusste nicht, warum ihre Mutter immer noch weinte. Es war doch alles gut. Marie erbrach sich in eine seltsam geformte Metallschüssel. Sie erinnerte sich vor allem an die freundlichen Augen des Doktors und las in ihnen: Alles ist gut. Erst später sah sie die Wunden an ihren Unterarmen, die halbkreisförmigen Abdrücke ihrer eigenen Zähne. Deshalb weinte ihre Mutter und konnte nicht aufhören. Sie hatte Marie nicht geglaubt, sie hatte sie diese Schmerzen leiden lassen. Sie, die sonst übervorsichtig war, «eine typische alte Mutter, Sie kennen mich doch, Herr Doktor!», die alles für Marie tun würde. Sie hatte versagt.
«Sie werden Ihre Gründe gehabt haben», sagte Dr. Vogelsang freundlich. «Nun erzählen Sie mal.» Maries Mutter schneuzte sich. «Ja, sie hat jeden Tag eine andere Ausrede, um nicht zur Schule gehen zu müssen», sagte sie. «Oder dann geht sie morgens pünktlich aus dem Haus, kommt aber nie in der Schule an. Was meinen Sie, wie oft mich ihre Lehrerin schon angerufen hat? Ein paarmal ist sie auch mitten aus der Schulstunde davongelaufen, und einmal ist sie sogar aus dem Fenster gesprungen!»
«Aus dem Fenster gesprungen?» Dr. Vogelsang schaute Marie an, die mit den Schultern zuckte.
«Es war nicht hoch», sagte sie. Und dann: «Mir war halt langweilig!»
Marie erholte sich schnell. Ihre Mutter brauchte länger. Ihr Vater schenkte ihr eine Murmelbahn, die noch größer war als die in Dr. Vogelsangs Wartezimmer. Nachdem Marie aus dem Spital entlassen worden war, verwies der Hausarzt sie an den Schulpsychologen. Bei der Abklärung stellte sich heraus, dass Marie den Schulstoff sehr viel schneller abspeicherte, als es der Lehrplan vorsah. Das Gutachten bestätigte, was Marie immer gesagt hatte: Sie langweilte sich zu Tode. Sie übersprang eine Klasse und später noch eine. Sie machte die
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