Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
gemeint, ich hoffe etwas. Der Kranke in mir, der tot sein will und dazu schweigt; sein gelassenes Bedürfnis, mein Hirn an die nächste Wand zu schmettern –
SHIT !
Am Mittwoch werde ich 63 ... Heute wirds regnen, das hat er aber schon vor einer Stunde gedacht, und es regnet noch nicht. Einmal ein paar Tropfen. Es ist neun Uhr. Nach zehn Uhr (das hat er an der Zimmertüre gelesen) gibt es kein Frühstück mehr – so weiß er wieder, was er denkt, die Schuhe in den Händen: Ich muß sie wecken ... Morgens ist Lynn nicht ansprechbar. Ihre Lider jetzt ohne Schminke blaß und wächsern. Sie atmet aber. Ihr offenes Haar auf dem Kissen, ein nackter Arm hängt fast auf den Boden, ein Fuß unter dem Linnen hervor.
IN DIESEN TAGEN STEH ICH AUF MIT DEN BIRKEN
UND KÄMM MIR DAS WEIZENHAAR AUS DER STIRN
VOR EINEM SPIEGEL AUS EIS.
...
IN DIESEN TAGEN SCHMERZT MICH NICHT,
DASS ICH VERGESSEN KANN
UND MICH ERINNERN MUSS.
Im Morgengrauen vor Jahren (1958) gehe ich auf der Küstenstraße, während sie schläft; nicht barfuß, aber in den Espadrilles beginnen die Füße auch zu brennen. Es ist dringlich, und ich gehe geschwind. Ich schaue kaum. Trotzdem sehe ich in der Bucht die reihenweise verankerten Schiffe zum Verschrotten, Fischerboote weit draußen im Morgengrauen. Zuerst bin ich nur vors Haus gegangen und habe mich an die Mole gesetzt, ab und zu ein Blick zu dem Haus hinauf. Habe ich gehofft, sie suche mich? Wenn man schläft, ist eine Stunde nichts; sie wird lang für den Wachenden. Dann bin ich geschlendert, um nicht zu frösteln. Plötzlich auch die Langeweile. Wo die schmale Küstenstraße um den Fels biegt, dort wo man zuletzt den kleinen Hafen noch sieht, das Haus, wo sie schläft, die kleine Terrasse im obersten Stock, habe ich mich nochmals auf die Mauer gesetzt, die beiden Arme zur Seite gespreizt, die Hände flach auf dem rauhen Mörtel, die Füße mit den Espadrilles pendelnd. Nachdem ich den Mörtel von den Händen gerieben habe, gehe ich, bevor dieser Tag wird. Wie einer, der eine Meldung zu bringen hat, eine dringliche, gehe ich weg. LA SPEZIA ; ich komme nicht weiter. Zu früh vor Tag, um einen Kaffee zu bekommen. Kein Mensch auf den Beinen, kein vernünftiger, alle Rolläden geschlossen. Sie bauen noch nicht einmal den täglichen Markt auf. Kein Bus; man kann mitten auf den Straßen gehen. Ich bin froh um das Schlottern auf einer öffentlichen Bank, alles Denken hilflos, ich weiß nicht, in welcher Richtung die Zukunft liegt. Später am Bahnhof, nachdem ich den Fahrplan studiert habe ohne Lesebrille, sehe ich nach, wieviel Geld ich denn in der Hosentasche habe. Fort von ihr oder zu ihr? In ihrer Nähe gibt es nur sie, in ihrer Nähe beginnt der Wahn. So viel habe ich schon gewußt. Noch meine ich, es sei zu entscheiden wie mit einer Münze, die man wirft: Kopf oder Schrift? Es ist aber schon entschieden.Zum Hohn bloß werfe ich tatsächlich eine Münze, 100 Lire, nehme sie vom Boden, ohne hinzusehen, ob Kopf oder Schrift; ich warte nur noch, bis es einen Kaffee gibt in dieser Stadt: LA SPEZIA ... Genau um diese graue Morgenstunde vor zwei Monaten: PARIS , die ersten Küsse auf einer öffentlichen Bank, dann in die Hallen, wo es den ersten Kaffee gibt: am Nebentisch die Metzger mit den blutigen Schürzen, diese zu plumpe Warnung. Ihre Reise nach Zürich. Die Verstörte am Bahnhof; ihr Gepäck, ihr Schirm, ihre Taschen. Eine Woche in Zürich als Liebespaar und aus klarer Erkenntnis der erste Abschied. Das gibt es tatsächlich: daß Haare zu Berge stehen. Ich habe es bei ihr gesehen. Die klare Erkenntnis, lebbar nicht länger als vier Wochen. Meine Reise nach Neapel. Sie am Bahnhof; ihre Arme haben Kraft. Wohin mit uns? Schließlich ist es ein Zufall, wo wir eine Unterkunft bekommen; wieder zu plump: PORTO VENERE , wo wir im Taxi angekommen sind wie auf einer Flucht ... Dann habe ich den Sand aus den Espadrilles geschüttelt, bevor ich aufgestanden bin, und die Münze gebe ich für den Kaffee. Wir leben sieben Monate zusammen, dann werde ich krank. (Hepatitis.) Ich bin achtundvierzig und habe noch nie in einem Spital gelegen, ich genieße die Einlieferung, alles weiß und mit Bedienung. Dann aber die Angst, das Gedächtnis zu verlieren. Zum ersten Mal diese Angst. In der Nacht ein Satz, den ich ihr sagen muß: Der Satz. Er scheint mir richtig und infolgedessen ist es wichtig, daß ich, unfähig zu Notizen, den Satz auswendig lerne. Morgens die tägliche Infusion in den rechten
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