Montedidio: Roman (German Edition)
Ich bin nicht sicher, ob das Glauben ist, ich tue es aus Gewohnheit, um dem Abend nicht seine letzten Worte zu nehmen. Rafaniello sagt, dass Gott durch unsere Beharrlichkeit gezwungen ist zu existieren, durch die Gebete bildet sich sein Ohr, durch unsere Tränen können seine Augen sehen, durch Fröhlichkeit erscheint sein Lächeln. Wie bei dem Bumerang, denke ich: Ein Wurf lässt sich durch beständiges Üben vorbereiten, aber kann man den Glauben trainieren? Ich schreibe seine Worte auf, so wiederhole ich sie, später verstehe ich sie vielleicht. Er sagt auch, dass man singen soll, um den Gedanken Luft zu verschaffen, sonst werden sie, im Mund eingeschlossen, schimmelig. Wenn ich jetzt auch noch anfange zu singen mit dieser glanzvollen Stimme, die derzeit in mir ist, dann haben wir hier hier ein richtiges Festival. Meister Errico setzt alles daran, dass man ihn durch den Hobel hindurch hört. Don Rafaniè, frage ich, seid Ihr, weil Ihr so lange in Neapel bleibt, etwa schon zum Neapolitaner geworden? Nein, umgekehrt, sagt er zum Spaß, vielleicht sind die Neapolitaner ja einer der zehn verlorenen Stämme Israels. Was? Ihr habt zehn Stämme verloren? Und wie viele sind euch geblieben? »Nur zwei, einer ist der von Juda, von dem wir den Namen Juden haben, ein Name, der vom Verb ›danken‹ kommt.« Dann nennt ihr Juden euch also: Danke? »Das bedeutet das Wort, aber es wäre gut, wenn alle Menschen einen solchen Namen hätten, der aus einem Wort des Dankes besteht.«
B EI DER LAUWARMEN N OVEMBERSONNE heute war die ganze Gasse draußen, Stühle wurden auf die Straße geschoben, neben die Stange für die Wäscheleinen und das Kohlebecken. »È asciuto, ’o pate d’e puverielle« , sagt Meister Errico, der Vater der Armen ist herausgekommen. Das ist die Sonne der kalten Monate, die ihre Decke über die legt, die keine haben. Bis hinauf nach Montedidio sind die Stimmen der Straßenhändler gestiegen, die es ausnutzen, dass die Fenster offen stehen, um von der Straße aus in die Häuser zu rufen. »Olive di Gaeta, tengo olive pietr ’e zucchero, calate ’o panaro« , Oliven aus Gaeta, zuckersüße Oliven zu verkaufen, lasst Eure Körbe herunter. Die Rufe sind so kraftvoll, dass die Leute sich am Fenster zeigen. Mit meinen Augen war ich draußen auf der Straße, während der Arbeit. Ich hatte Lust, nicht auf Oliven, sondern rauszugehen. Aber ich lerne, dass genau das Arbeit heißt, brav dabeibleiben und sie erledigen, auch wenn draußen eine niedrige Sonne vorüberzieht, die sofort wieder weg ist, und der Abend kommt und man immer noch in der Werkstatt eingeschlossen ist und die Sonne gesehen hat, ohne ihr Hallo zu sagen. Sing, sagt Rafaniello, die Gedanken müssen freien Lauf haben, müssen ein Loch finden, um herauszukommen, ich nicke, doch aus meinem Mund kommt nicht mal ein heiserer Hauch. Wenn ich dort draußen bin zwischen den Füßen der anderen, ja, dann könnte ich sogar ein Lied singen, doch ich darf ja nur mit den Augen nach draußen gehen. Die Tür ist offen, der Wind vom Meer kommt herauf, um Hafengeruch bis hier oben hinzubringen, mir ist, als würde Papas Jacke riechen, voller Fett, Salz, Rost und Teer. Das nimmt mir die Traurigkeit. Statt zu singen, Atem zu verschwenden, ziehe ich Meeresluft und Wind in die Nase ein. Der Ruf der Oliven kommt näher. Ich denke an Papa, der in den Kielräumen steht und vielleicht auch Lust hat, ins Freie hinauszugehen. Er verdient es mehr als ich, ich erlebe erst meine erste Traurigkeit.
I M S OMMER WARTETEN M AMA und ich am Tor auf ihn, wenn er von seiner Schicht kam. Wir wussten nicht, ob er pünktlich fertig sein würde oder ob er noch zusätzliche Stunden arbeiten musste. Ich stand dort draußen, sah zu, wie die Leute auf der Beverello-Mole in die weißen Dampfer der Schifffahrtsgesellschaft Span stiegen. Sie fuhren auf die Inseln und stiegen mit Strohhüten ein und aus. Manche von ihnen waren rot geröstet von der Sonne, Mama lachte, weil sie Ähnlichkeit mit Tomaten hatten: »Sbarcano ’e pummarole« , schau, die Tomaten gehen an Land. Sie selbst hat sich nie in die Sonne gesetzt, ist nie an einen Strand gegangen. Bis jetzt bin ich noch nicht auf einen Dampfer gestiegen, aber wenn ich es tue, setze ich mir keinen Strohhut auf. Wir warteten auf Papa, und wenn er mit der guten Jacke und dem bis zum Hals zugeknöpften weißen Hemd herauskam und sich gewaschen und gekämmt hatte, waren wir die schönste Familie am Meer. Wir spazierten bis zum Hafen der Mergellina am
Weitere Kostenlose Bücher