Montedidio: Roman (German Edition)
Schusterhandwerk im Talmud gelernt«, ein dickes Buch aus seinem Land über heilige Dinge. Don Rafaniè, Ihr seid sogar noch im Schlaf zur Schule gegangen, Ihr habt Euch nie ausgeruht. Ich dagegen will nachts nichts wissen, und selbst wenn die Glücksfee mit den Lottozahlen im Mund kommt, sage ich zu ihr: Komm morgen wieder. Nachts bin ich für niemanden da, ich schlafe wie ein Toter, wie ich die Augen zumache, so öffne ich sie wieder, in derselben Haltung. Jeder Morgen ist eine Auferstehung.
W IR SETZEN UNS an die kleine Werkbank für die Schuhe, er reibt sich den Buckel an der Mauer, ich massiere ihn ein bisschen. Unter der Jacke bewegen sich die Knochen, Knochen von Flügeln. Wir sind vertraut miteinander, ich sage: Die Frauen gebären vorne und Ihr hinten. »Männer haben nicht die Ehre zu gebären«, entgegnet er. Wir sitzen beim Essen nah beieinander, er spült sich den Mund aus, spuckt, so macht er es immer, wenn er von heiligen Dingen sprechen will: »In meinem Land habe ich die Psalmen gelesen, wo die Frage geschrieben steht: ›Wer wird auf den Berg Gottes steigen?‹, und die Antwortet lautet: ›Wer unschuldige Hände und ein reines Herz hat.‹ Dann hat der Krieg meine Gegend getroffen, er ist von Westen gekommen, über uns hergefallen, er hat die Erde und die Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt. Es waren Feinde, von denen ich nicht wusste, dass ich sie hatte. Ich habe mich unter dem Mist der Tiere versteckt, unter einem Fußboden, in einer verlassenen Kalkhöhle, ich hab durchgehalten, ohne zu wissen, warum ich leben wollte, wo doch alle starben. Ich war ein Rebell, weil ich mich geweigert habe, auch zu sterben, ein Gotteslästerer, weil ich weiterleben wollte. Ich habe mich versteckt, habe zu mir genommen, was ich finden konnte, habe Baumrinde gekocht, Honig aus Bienenstöcken gestohlen, habe meinen Urin mit Schnee vermischt getrunken. Hiobs Frau sagt zu ihm: ›Nun verfluche Gott und stirb‹, ich habe es nicht getan und Hiob auch nicht. Ich habe ihn nicht verflucht und bin nicht gestorben. Der Krieg hat mir das Herz gereinigt und die Hände mit Kalk gewaschen. Als er vorbei war, war ich bereit, hierher nach Montedidio zu kommen, bereit, auf den Berg Gottes zu steigen.«
D EN R EST ERZÄHLT ER MIR am Tag darauf, während es draußen regnet, eine Verschwendung all des guten, sauberen Wassers, das im Meer landet, ohne dass jemand einen Topf nach draußen hält, um mit dem Wasser Nudeln zu kochen. Donna Speranza, die Hausmeisterin, sammelt das Regenwasser vom Mai, sie sagt, es ist gut für die Augen. Rafaniellos leise Stimme gesellt sich zu dem Wasser, das die Gasse hinunterfließt, sie strömt wie das Wasser. »Mit mir kamen andere Menschen meines Volkes aus ihren Verstecken hervor, auch sie waren mit Kalk abgerieben und für den Aufstieg vorbereitet worden. Wir machen uns auf Richtung Süden, hinunter durch ganz Italien, das sich so lang erstreckt mitten im Meer, ein so schönes Land, wie schade, dass es irgendwann aufhört, nicht noch weiter reicht. Wir versuchen, uns einzuschiffen, in das Land unserer heiligen Schriften, wir haben keinen Pass, keine Rechte, wir sind Lebende, die der Tod abgewiesen hat. Die Engländer riegeln das Meer ab, lassen uns nicht fahren. Mir kommt ein böser Gedanke: ›Behalt du doch deinen Berg, behalt deine Engländer in Jerusalem, nimm dir die doch als Volk.‹ Also überlegt Gott es sich noch einmal, schickt die Engländer fort, und mich bestraft er in Form einer Verspottung: Berg Gottes, ja, aber in Neapel, in Montedidio. Es stimmt zwar, dass die Leute hier fähig sind, antike Möbel, Luxusuhren und amerikanische Zigarettenpackungen so gut zu imitieren, dass sie wie Originale aussehen, aber den Berg Gottes, den kann man nicht nachmachen, das ist zu viel der Nachahmung, den gibt es nur in Jerusalem. Hier oben am Ende der Steigung, wo man das Meer und den Buckel des Vulkans sieht, da mag es vielleicht eine Aussichtsterrasse geben, aber nicht den Schemel für die Füße Gottes. Trotzdem haben sie diesen Hügel unbedingt Montedidio, Berg Gottes, nennen wollen, und weil sie schon einmal dabei waren, nennen sie den Nachbarhügel auch gleich Montecalvario, Kalvarienberg, und das macht dann zwei«, sagt Rafaniello, und er nimmt es als Scherz, denn die scherzhaften Strafen muss man akzeptieren, manchmal läutert Gott die Menschen eben mit einem Witz, so sagt er. »Bei allem Respekt, aber das Heilige Land hat keine Zweigstellen. Einstweilen bin ich hiergeblieben, hoch oben
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