Montedidio: Roman (German Edition)
auf einem anderen Montedidio, das aber nicht der Berg Gottes ist, wie ein Tourist, der falsch gebucht hat.« Es ist wohl seine leise Stimme oder die Anstrengung, alles richtig zu verstehen, die seine Worte noch einmal erklingen lässt, und ich schreibe sie nach dem Gehör auf die abendliche Papierrolle, während der Regen immer noch beharrlich fällt und mich daran hindert, zur Waschküche hinaufzusteigen.
E IN AUSLÄNDISCHER S CHUSTER kann sich auf Italienisch so genau ausdrücken, dass ich voll Rührung an Papa denke, der sich abmüht zu lernen und nicht halb so viele Worte weiß wie Rafaniello. »Habt Ihr auch die italienische Sprache im Traum mitbekommen?«, frage ich ihn. Nein, er sagt, er hat sie aus Büchern, er hat viele Male Pinocchio gelesen. Das hab ich auch gelesen, sage ich voller Freude, dass wir eine Sache gemeinsam haben. Er sagt, dass Pinocchio in seinem Land Jòsl heißen würde und aus Treue zu seinem Schöpfer sein ganzes Leben lang aus Holz geblieben wäre. »Jetzt kennst du die Geschichte, meine Geschichte, als ich noch Rav Daniel war, und die meiner Landsleute, die nicht mehr leben. Wer stirbt, vererbt die Geschichte seinen Kindern, seiner Familie. Mein Volk hat sie mir und ein paar anderen hinterlassen. Ich erzähle sie dir, weil ich bald fortgehe, wenn dieser Buckel aus Knochen und Federn aufspringt.« Don Rafaniè, wie ist dieses Jerusalem, dass wir es nicht nachmachen können? Er spült sich den Mund aus, spuckt, dann sagt er, dass er es noch nicht kennt, doch jemand hat ihm gesagt: »In dieser Stadt hat der Tod Angst davor, vom Leben verschluckt zu werden. Es ist die einzige Stadt auf der Welt, wo der Tod sich schämt, dass es ihn gibt.« Er schließt die Augen, wiegt den Hals hin und her, er ist schon dort. Dieser Ort muss etwas ganz Besonderes sein, in Neapel schämt sich der Tod vor gar nichts.
R AFANIELLO MAG K NOBLAUCH, Öl, Tomaten mag er nicht. Die Mittagspause vergeht mit seinem Brot mit Gemüse und meinem mit Sardellen. Er sagt, dass ich Geheimnisse für mich behalte. Er kann mich erraten, ich sage nichts. Er fragt, wie es Mama geht. Seit einem Monat schon sehe ich sie nicht, Papa will das nicht, er sagt, sie liegt unter einem Zelt mit angeschlossenen Schläuchen, und nur er darf hingehen. Um das Thema zu wechseln, sage ich: Wisst Ihr, Don Rafaniè, Ihr habt die gleiche Reise gemacht wie die heilige Patrizia. Sie wollte auch nach Jerusalem, und ein Sturm hat sie gezwungen, in Neapel auszusteigen. Ich erzähle ihm die Geschichte der Heiligen, sie ist jung gestorben in Neapel und hat ein wundertätiges Blut hinterlassen, es wird dauernd flüssig und gerinnt wieder, viel öfter als das vom heiligen Gennaro. Das interessiert Rafaniello. Wollt Ihr wissen, wie das Blut der heiligen Patrizia herausgekommen ist? Eines Nachts hat ein frommer Mann das Grab aufgebrochen und der Heiligen mit der Zange einen Zahn herausgezogen, um ihn als Reliquie zu behalten, und obwohl sie schon hundert Jahre tot war, hat sie angefangen, Blut aus dem Zahnfleisch zu spucken, das hat man in einem Glas aufgefangen, und so hat das Wunder begonnen. Don Rafaniè, hier passieren Dinge, für die man für verrückt gehalten wird, wenn man sie erzählt, aber sie passieren trotzdem. Diese Stadt ist ein einziges Geheimnis. »Dies ist eine Stadt voller Blut«, sagt er, »wie Jerusalem.« Ja, das stimmt, hier ist man besessen vom Blut, die Flüche und Verwünschungen handeln vom Blut, die Leute essen es sogar gekocht und gehen es dann in den Kirchen verehren. Vor allem die Frauen reden ständig verzückt davon, o’ sang , das Blut. Und auch die Nudelsoße am Sonntag ist so dunkel, so dick, dass sie ihm ähnelt. Rafaniello amüsiert sich über das, was ich so rede mit meiner geheimnisvollen Stimme, die so klingt, weil sie heiser ist.
I N DER W ASCHKÜCHE ERZÄHLT M ARIA , dass der Alte mit Kuchen heraufgekommen ist, ihre Mama ist hinuntergegangen, um Kaffee zu kaufen, und er hat wieder mit dem Flehen angefangen, dass er stirbt, wenn sie nicht zu ihm kommt. »Da hab ich zu ihm gesagt: Stirb. Viele Leute sterben, die jünger sind als du, da kannst du auch sterben. Er ist erst grau, dann rot geworden, hat versucht, mich zu packen, ich bin um den Tisch herumgelaufen, und er konnte mich nicht fangen. Du bist böse, hat er gesagt und geschnaubt, dass ihm der Speichel herauslief. Dann hat er aufgehört, hat sich eine Hand auf die Stirn gelegt, sich beruhigt und ist weggegangen. Den Kuchen hat er dagelassen, und wir haben ihn
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