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Montedidio: Roman (German Edition)

Montedidio: Roman (German Edition)

Titel: Montedidio: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erri De Luca
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die Reise ist lang, und Ihr macht sie im Winter. Die anderen Vögel sind schon losgeflogen und angekommen. Ich weiß, antwortet er. In seinem Land sah er, wie die Störche sich im September im Himmel versammeln, um nach Afrika zu fliegen, sie kommen auch nah an Jerusalem vorbei. »Im Kopf wächst mir ein Storchenauge, das den Weg kennt.« Wann wird das sein?, frage ich. »Wenn das Holz der Bundeslade fliegt, das hat mir der Engel gesagt. Ich halte mich bereit für die letzte Nacht des Jahres. Dann werfen die Neapolitaner ihre alten Sachen auf die Straße. Einer von ihnen wird, ohne es zu wissen, ein Stück Holz der Bundeslade fortwerfen.« Dann sagt er mit einem Vogelstimmchen: »Er wird es fortwerfen, weil in der Bundeslade keine Gesetzestafeln mehr sind, keine Gebote mehr.« Richtig, denke ich, in dieser Nacht wird niemand Rafaniellos Flug bemerken.
    I CH BLEIBE MIT DEM B ESEN in der Hand stehen, in Gedanken versunken, Meister Errico kommt früher zurück, sagt: »Du bist schon wieder hier? Gefällt dir die Arbeit?« Ja, sage ich, ich esse zusammen mit Don Rafaniello. Meister Errico erinnert sich daran, dass bei mir zu Hause niemand ist, und lädt mich mittags zu sich ein, damit ich etwas Warmes esse. »Morgen kriege ich einen Mozzarellazopf aus Agerola, hast du den schon mal probiert, mein Junge? Der ist was ganz Besonderes, Agerola liegt in den Bergen, dort essen die Kühe ’e ffoglie de’ chiuppe «, chiuppe , das sind Pappeln. »Die Blätter der chiuppe geben dem Mozzarellazopf diesen leicht bitteren Geschmack, das Besondere. Willst du kommen?« Ich bedanke mich, aber so, wie es ist, ist es in Ordnung, ich bleibe gerne über Mittag in der Werkstatt. »Mach, wie du willst, ich sag’s dir nicht zweimal«, brummt Meister Errico, zündet sich die halbe Zigarre an und lässt die Säge losgehen. Zwischen ihm und Rafaniello gibt es nur Grußworte, aber die sind aufrichtig gemeint. Sie respektieren sich gegenseitig: »Don Rafaniello hat für ganz Montedidio Schuhe gemacht, früher gingen wir barfuß.« »Und Ihr habt mir Feuerholz gegeben, um mich zu wärmen, und einen Platz zum Schlafen, ohne Euch wäre ich in den Gassen am Hafen verloren gegangen.« »Vuie cu`chella capa rossa che tenite nun ve sperdite manco int’a na sporta ’e purtualle.« Bei dem roten Kopf, den Ihr habt, geht Ihr nicht mal in einem Korb voller Orangen verloren, übersetze ich ihm.
    I N DER W ERKSTATT LIEST Meister Errico uns aus der Zeitung die Meldung von einem Mann vor, der den Ruf hat, ein Unglücksbringer zu sein, und aus Verzweiflung beschließt, sich aus dem Fenster zu stürzen, und dabei auf einen armen Unglücksraben fällt, der gerade an der Stelle vorbeigeht. Der Fußgänger stirbt, und der Unglücksbringer bricht sich zwei Rippen. »Guagliò, chiste so’ nnummere« , Junge, so was bedeutet Zahlen, sagt er, die muss man im Lotto spielen, und dabei berührt er das rote Horn, das am Eingang der Werkstatt hängt. Rafaniello brummelt eine Beschwörung in seiner Sprache und spuckt auf die Erde. Bei uns zu Hause kommt kein Aberglaube über die Schwelle, Papa sagt, das ist was für Frauen, Mama sagt, das ist dummes Zeug, und darauf sind die Männer noch wilder als die Frauen. Wir, sagt Meister Errico, sind sowieso nur aus Versehen am Leben und schlagen uns durch, ohne dass Gott uns sieht, da fehlt uns gerade noch der schiefe Blick, der Neid mit sich bringt, und schon sind wir erledigt. Hier bei uns gibt es keinen, der zum anderen sagt: »Du Glücklicher«, er wird sofort als Unglücksbringer angesehen, wenn dem anderen was Schlimmes passiert. Er verstaucht sich den Fuß, und gleich schiebt er die Schuld dem zu, der vorher den Satz gesagt hat. Und so fängt man an, seinen Ruf wegzuhaben. Rafaniello sagt, in seinem Land heißt der böse Blick anóre . Er erinnert sich, dass seine Mutter schön war, man machte ihr sogar Komplimente, als sie schwanger war, und sie hat sie angenommen, sie hat keine Beschwörungen gesprochen, und darum hat sie einen buckligen Sohn geboren. Zu Hause hat man ihr Vorwürfe gemacht, wenn sie cananóre gesagt hätte, wäre der Junge gesund geboren. Der neidische Blick bringt Verderben, sagt Meister Errico.
    D ON L IBORIO FÜRCHTET G LÜCKWÜNSCHE geradezu. In der Woche um Ferragosto, Mitte August, sperrt er die Druckerei zu und fährt hinauf ins Matesegebirge, der frischen Luft wegen. Als er seinen Koffer in das Taxi lädt, um zum Überlandbus zu fahren, trifft er Don Ferdinando, den vom Beerdigungsinstitut, der

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