Montedidio: Roman (German Edition)
für einen einzigen Wurf zu spannen. Eines Abends wird der Arm stark sein, und ich werde ihn nicht zurückhalten können, und dann wird der Bumerang fliegen. Ich denke ein wenig nach, dann sage ich: »Du hältst Kanarienvögel auf dem Balkon und lässt sie nicht fliegen, ich halte einen Bumerang gefangen.« Die singen aber, sagt Maria. Der hier pfeift, sage ich und lasse sie dicht am Ohr den Wind hören, der vom Wurf durchschnitten wird. Sie erschrickt nicht, lacht. Maria öffnet mir die Hand, die das Holz umklammert hält, sie berührt meine Finger, ich schlucke meine Spucke herunter. Der Bumerang ist jetzt in ihren Händen. Ganz schön schwer, sagt sie, und gibt ihn mir zurück. Schwer? Das ist ein Flügel aus Holz, wie kann der schwer sein? Sie besteht darauf, dass er schwer ist und brennend heiß dazu. Sie versteht, warum ich trainiere, fasst meine Schulter an: »Seit du arbeitest, bist du stark geworden.« Ich schlage die Augen nieder. Maria packt die Haare vor meiner Stirn und zieht sie nach oben: »Schau mir ins Gesicht, wenn ich mit dir rede.« Es ist dunkel, und Maria markiert die Starke vor mir. Sie ist ein bisschen größer, hat schon Busen. Ich bleibe eine Weile still stehen, dann löse ich ihre Finger, die immer noch in meinen Haaren sind. Sie geht weg, dreht sich um, sagt: »Morgen um die gleiche Zeit komme ich zurück, ich muss dir ein Geheimnis erzählen.« Ich bleibe allein, der Abend wird kühler hier bei den Waschtrögen, die von den Seifenflocken sauber gespült worden sind. Die Mütter waschen hier Wäsche und auch die Wunden ihrer Söhne, wenn Blut fließt. Ich nehme die Sachen von der Leine und gehe hinunter.
M AMA SCHLÄFT VIEL, von einem Tag auf den anderen ist sie an Gelbsucht erkrankt, sie ist gelb wie alter Knoblauch. Ich tunke mein Brot in kalte Milch, den Gasherd darf ich nicht anzünden, Papa ist Medizin holen gegangen, wenn er abends um zehn Uhr eine offene Apotheke finden will, muss er einmal durch ganz Neapel laufen. Ich lege den Bumerang neben mir auf den Küchentisch, er ist immer bei mir, auch am Körper, bei der Arbeit behalte ich ihn unter der Jacke. So viel Neues kündigt sich an, Rafaniello, Maria, die Kraft, die ich auf der Dachterrasse kriege. Der Bumerang kommt vom Meer, er muss fliegen, einstweilen lässt er Muskeln wachsen bei einem kleinen Lehrling, der noch nach Tinte aus der Schule riecht, seit Juni bei einem Tischler arbeitet und die Ereignisse seines neuen Lebens mit einem Bleistift auf eine Papierrolle schreibt, die ihm der Drucker von Montedidio geschenkt hat, der Rest einer Spule. Und die Rolle dreht sich, und schon sehe ich die vergangenen Dinge geschrieben stehen, die sich sofort aufrollen.
M EISTER E RRICO SINGT. Wenn er eine anstrengende Arbeit verrichtet, stimmt er ein Lied an und lässt nicht mehr davon ab, verbraucht es ganz. Auch Rafaniello singt, aber stumm, in der Kehle. Er bewegt kaum die Lippen, in einem Mundwinkel hält er ein Dutzend kleiner Nägel für die Sohlen. Ich höre ihn auch durch die Stimme von Meister Errico, die im Lauf des Vormittags immer voller wird und am Mittag abbricht, wenn es Zeit zum Essen ist, und der große Raum sich mit einem Balken Sonne füllt, der ihn in zwei Teile spaltet. Und das Sägemehl steigt in die Höhe, dem Licht entgegen, das uns
besucht.
Rafaniello singt wohlklingend, selbst wenn die Bandsäge oder der Hobel geht, weiß ich, ob er singt oder nicht. Welche Lieder kennt Ihr, Don Rafaniè, frage ich. Er kannte viele, jetzt singt er eines, und nur noch das. Ich bin dazu erzogen worden, nicht zu viele Fragen zu stellen, und behalte meine Neugier für mich. Er lässt ein bisschen Stille vergehen, so viel, wie ich für meine zweite Frage gebraucht hätte, und antwortet dann trotzdem. Rafaniello antwortet sogar auf Fragen, die nicht gestellt worden sind. Er sagt, dass er nur ein Lied singt, wenige Strophen. Die Worte sind ein Glückwunsch für den Bau irgendeines Hauses, in dem man betet. Eine Kirche, sage ich. Nein, es ist ein Haus, wo man liest, lernt und ein Gebet spricht. Rafaniello lächelt, das heißt, unser Gespräch ist beendet. Ein Tag ist schnell gegessen, und sehr viele Schuhe sind zu reparieren.
M EISTER E RRICO KNEIFT die Augen zusammen wegen des Staubs, wegen der gefährlichen Splitter, und er hat vom vielen Zukneifen einen Strahlenkranz Falten um die Augen. Rafaniellos Augen sind feucht, er wischt sich mit dem Handrücken darüber. Ich bin ein bisschen vertrauter mit ihm geworden: Don Rafaniè, es
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