Montedidio: Roman (German Edition)
sieht aus, als ob Ihr weint. »Es ist die Luft hier drinnen«, sagt er, »es ist der Leim, es ist Montedidio, das mir Tränen aus den Augen presst.« Und er wischt darüber. Er sagt, dass alle Augen Tränen brauchen, um sehen zu können, sonst werden sie wie die der Fische, die außerhalb des Wassers nichts sehen und austrocknen, erblinden. Es sind die Tränen, die das Sehen ermöglichen, sagt er. Sie kommen, auch wenn man nicht weinen muss. Ich nicke zustimmend und spüre in meiner Nase zwei Tränen aufsteigen, die herauswollen. Ich merke das Kitzeln, bevor einem die Tränen kommen, schnell drehe ich mich um, schnäuze mir die Nase in die Finger und schüttle sie über dem Sägemehl aus, dann gehe ich mit dem Besen darüber und mache besonders kraftvolle Bewegungen, um meine Scham zu verbergen, und lade außerdem noch ein bisschen Neapolitanisch darauf, das ist immer gut, wenn man es braucht: »che chiagne a ffà« , warum heulst du, sage ich zu mir selber und spucke auf den Boden, doch die zwei Tränen lösen sich trotzdem, Meister Errico merkt es, »guagliò ti scorre la parpétola« , Kleiner, das Ventil deiner Augendeckel ist undicht, er sagt, ich soll mich nicht im hintersten Winkel der Werkstatt herumdrücken, und schickt mich fort, dass ich in der Druckerei von Don Liborio um eine halbe Dose Maschinenfett bitte. Und auf der Straße erscheint alles, was ich erblicke, klarer, die Schalen der Früchte, die Kiemen der Fische, der in der Mitte durchgeschnittene Schwertfisch und der Zinnteller des Bettlers, der den lieben langen Tag auf seinen Beinen steht und sich nicht setzt, weil die Passanten auch auf den Beinen sind und die verachten, die bequem am Boden sitzend auf ein Almosen warten. Rafaniello hat recht, zwei Tränen genügen, um den Blick zu schärfen.
D ON L IBORIO GIBT MIR das Fett, und außerdem fasst er mein Dings an. Ich kann nichts dafür, ich muss das aushalten, und mehr kann er mir sowieso nicht anhaben, ich bin stark und entwische seinen Händen mit einem Satz. Er ist schwerfällig, langsam und fasst den Buben an ihr Dings. Er gluckst dabei, und das klingt eher wie ein Täuberich als wie ein Mann. In der Druckerei macht er alles selber, kein Lehrling will bei ihm bleiben. Die Leute wissen Bescheid, aber jeder kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, und außerdem tut Don Liborio gute Werke, er hat einem Waisenmädchen, das keine Aussteuer hatte, das Brautkleid bezahlt. Und außerdem sagen die Leute, dass davon noch niemand gestorben ist. »Quanno è pé vizio, nun è peccato« , was ein Laster ist, ist keine Sünde, so sagt der Volksmund. Meister Errico schickt mich zu ihm, weil er weiß, dass Don Liborio mir das Fett gibt. Aber er sagt: »Komm sofort zurück, vertrödle keine Zeit mit Don Liborio.« Und ich komme sofort zurück. Don Liborio gönnt sich einmal Begrapschen, und damit sind wir quitt. Er hat mir auch die Rolle Papier vom Druckzylinder geschenkt, auf der ich gerade schreibe. Auf der Straße ist die Wirkung der Tränen weg, ich sehe nicht mehr so klar. Ich halte den Bumerang an meiner Brust, wer weiß, was mit Don Liborio los wäre, wenn ich ihn in die Hosen stecken würde. Abends ist die Wohnung still, Mama schläft, ich esse Brotkrumen in Milch, ohne sie wird nicht gekocht, Papa kaut Brot mit Öl und Tomaten, ich sage ihm Gute Nacht und steige hinauf auf die Dachterrasse, um zu trainieren und die Wäsche abzunehmen.
A UCH M ARIA KOMMT HERAUF , wir setzen uns unter die leeren Wäscheleinen, ich bin verschwitzt, und der Bumerang ist heiß von all der durchschnittenen Luft. Maria berührt mich, sie sagt nichts, sie berührt mich, erst überall am Körper und dann an der Hose. Ich weiß gar nicht, welche Bewegung ich machen soll, ich kann nur zuschauen, sie packt mich an einer Stelle, und ich kann nur mit Mühe die Augen offen halten. Ich will sie zumachen und heftig atmen, aber ich schaffe es, dem Drang zu widerstehen, ich halte sie starr geöffnet, um ihr wenigstens mit den Augen etwas zurückzugeben, wenn ich schon sonst nichts tun kann. In der Dunkelheit betrachte ich ihr ernstes Gesicht, sie bewegt die Hand an einer bestimmten Stelle, und ich begreife nicht, was dort passiert, sie sieht mich nicht an, ich wende den Blick nicht von ihrem Gesicht, schaue nicht, wo sie mich berührt, sie ist zwar an einem Teil von mir, aber es ist nicht das Dings, das Don Liborio anfasst. Es ist an der selben Stelle, aber es ist ein anderes Fleisch, das im Rhythmus ihrer knetenden Finger aus
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