Montedidio: Roman (German Edition)
er juckt. Er arbeitet flink, er muss noch viele Schuhe von armen Leuten fertig machen, August ist schon der Anfang vom Winter, sagt man bei uns. Schuhe sind wichtig für die Gesundheit. Mit durchgelaufenen Latschen und zwei ungleichen Schuhen kommen die Leute zu ihm, er repariert sie und rät allen, sich die Füße zu waschen, mit sauberen Füßen halten die Schuhe länger. Es ist auch in Ordnung, wenn sie sie im Meer waschen, in Neapel gibt es nur wenige Brunnen. Rafaniello macht der Gestank von fauligem Leder, von Wunden an schwarz gewordenen Füßen nichts aus, seine Nase muss heilig sein. Meister Errico dagegen kann das nicht riechen und lässt ihn den Sack mit den Schuhen von einer Ecke in die andere tragen. Ich helfe ihm, aber wenn ich mir den Sack auf den Rücken lade, halte ich die Luft an.
Er arbeitet ununterbrochen, das Rot der Sommersprossen wird feuriger, die grünen Augen dagegen bleiben ruhig. Er erzählt mir, dass die Knochen der Flügel nachts im Buckel knirschen, sie versuchen sich zu bewegen und tun ihm weh. Bald ist es so weit.
E R HAT AUSGERECHNET, dass es von Neapel bis Jerusalem zweitausend Kilometer Flugstrecke sind. Habt Ihr etwa vor, übers Meer bis dorthin zu fliegen? Er antwortet nicht. Ihr müsst zu Kräften kommen, sage ich, müsst ordentlich essen, wie die Zugvögel, bevor sie losfliegen. Dann denke ich still für mich, dass er, wenn alles gut geht, bis nach Castellammare di Stabia auf der anderen Seite des Golfes kommt, und dort wird man ihn mit einem Gänsegeier verwechseln und totschießen, um ihn auszustopfen. Was für ein furchtbarer Gedanke, nein, nein, Rafaniello fliegt mit seinen neuen Flügeln um die ganze Welt, das schafft er, er muss nur besser essen. Macht Euch zwei Rühreier, mit etwas Zucker geben sie sogar mir Kraft zum Fliegen. Rafaniello sieht mich aus dem Grün seiner großen Augen an: »So, wie sie sich bewegen, müssen es große Flügel sein.« Wir machen uns wieder an die Arbeit, er mit den kleinen Nägeln im Mund, ich mit dem Besen, ich fege seinen Platz sauber, und während ich hinter ihm stehe, höre ich ein Knacken von Knochen im Buckel und denke an den Bumerang. Der bebt auch vor Spannung in der Hand, weil er in den Himmel fliegen will. Ich muss ihn Rafaniello zeigen. Er hat mir das Geheimnis des Buckels gesagt, und ich habe sein Vertrauen noch
nicht erwidert.
W O ER WOHNT, in einem Zimmer, das vorher ein Abstellraum war, gibt es kein elektrisches Licht. Abends zündet er eine Kerze an. Er stellt sie auf einen Stuhl, er sagt, sie muss niedrig stehen, denn das Licht will aufsteigen. Er sagt auch, dass die Kerze die Dunkelheit erleuchtet, sie vertreibt sie nicht. Durch die Flamme des Dochtes leuchtet das Glas mit Wein von innen, glänzt das Öl, spürt das Brot das Feuer und fängt an zu duften. Was esst Ihr außerdem?, frage ich. Eine Zwiebel, sagt er, sie ist so schön im Licht der Kerze, man möchte sie küssen, statt sie durchzuschneiden. Dann gibt er Oregano dazu, das Salz glitzert, wenn er es von den Fingerspitzen auf den Teller vor dem Licht fallen lässt. Während er mir von diesen altbekannten Sachen erzählt, fällt mir auf, dass ich sie noch nie im Kerzenschein gesehen habe. So scheinen sie besser zu sein. Sie sind nahrhaft, werden ihm genügen, um nach Jerusalem zu fliegen. Dann sagt er, dass das Zimmer mit einer einzigen kleinen Flamme größer wird, an den Wänden bewegen sich die Schatten und leisten ihm Gesellschaft, und er sagt, im Winter wärmt eine Kerze sogar. Spätabends schreibe ich diese Geschichten über Rafaniello auf, dann schalte ich das Licht aus. Papa und Mama mögen Kerzen nicht, man hat sie während des Krieges
benutzt.
M AMA IST INS K RANKENHAUS gebracht worden. Die Wohnung ist still, reglos, es fällt mir schwer, hier zu sein. Ich wische den Boden, mahle ein wenig Kaffee für Papa, um meinen eigenen Lärm zu machen. Ich habe die Erlaubnis, den Gasherd anzuzünden, also koche ich Nudeln, damit er sie fertig vorfindet, wenn er heute Abend zurückkommt. Ich habe sogar den Haustürschlüssel. Ich brauche nur dreizehn Jahre alt zu werden, und schon gelte ich als Mann, habe den Kindergeruch verloren. Auch die Stimme, jetzt habe ich einen heiseren Atem, ich räuspere mich, aber er kommt nicht klingend heraus. Er liegt unter der Asche der früheren Stimme, ich versuche, meinen Hals frei zu bekommen, nichts, heraus kommt eine Schlafstimme wie die Stimme von jemandem, der gerade aufgewacht ist und das erste Wort am Morgen sagt. Ich bin
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