Montedidio: Roman (German Edition)
viele Male muss er Maß nehmen für den Zuschnitt, muss noch besser aufpassen. Der Geselle, den er früher hatte, war tüchtig, aber er ist mit denen von der Camorra aufgewachsen, und jetzt sitzt er. Darum bin ich gekommen, ich leihe ihm meine Augen, markiere ihm die Millimeter. Er berechnet dann, wie viel er für den Schnitt zugeben muss, und korrigiert das Maß.
I CH VERBRINGE MEINE T AGE DAMIT , die Werkzeuge und die Maschinen zu putzen, ich wische Späne und Sägemehl weg. Durch das Üben mit dem Bumerang werde ich kräftiger. Die Schultern spannen das Hemd, ein Fächer aus Muskeln strafft den Stoff auf dem Rücken, und ein Hornhautstreifen läuft mitten über die Handfläche, da, wo ich den Griff des Holzes umklammere. Abends bei der Waschküche hole ich weiter aus für den Wurf, ich mache die ganze Bewegung, um ihn wegzuschleudern, und dann halte ich im letzten Moment inne, am Ende der Bewegung von Schulter und Arm. Der Vortrieb wird immer stärker, der Bumerang bebt vor Lust. Ich schwitze in der Handfläche, ein Geruch nach bitterem Holz, bitterer als Kastanie. Niemand sieht mich, nur die Geister blasen mir manchmal ein trockenes Streicheln ins Gesicht. Die Straße macht auch abends Lärm, aber ich bin höher als alle anderen, auf der Terrasse mit der Wäsche, und das lauteste Geräusch ist die Kante des Bumerangs, die die Luft durchschneidet, wenn sie an den Ohren vorbeisaust.
R AFANIELLO IST MÜDE, er schläft unruhig, ihm brennt der Buckel. Und doch ist er zufrieden, das sei ein gutes Zeichen, sagt er. Er vertraut sich mir an, wenn Meister Errico fort ist, um Holz zu kaufen. Er hat mir seine Geschichte erzählt. Er ist aus Versehen nach Neapel gekommen, nach dem Krieg wollte er nach Jerusalem gehen. Er ist aus dem Zug gestiegen und hat zum ersten Mal das Meer gesehen. Eine Schiffssirene ist erklungen, und er hat sich an ein Fest in seinem Dorf erinnert, das mit dem gleichen Ton eingeläutet wird. Er hat sich die Füße angeschaut und wie viele Leute barfuß sind, eine Unmenge Kinder wie in seinem Land, mager, flink, es scheint ihm, als wären es seine eigenen. Er kommt aus einem Unglücksland, das alle Kinder verloren hat, die Menschenmenge in Neapel erinnert ihn an sie. In seinem Heimatort gibt es inzwischen nur noch so wenige Leute, dass man sich nicht mal mehr grüßt, in Neapel dagegen kann man den ganzen Tag nur mit Grüßen zubringen, bis man sich schlafen legt, weil man allein davon müde geworden ist.
R AFANIELLO GING IN UNSERER S TADT umher, die ihm fremd war und doch seiner eigenen von vor dem Krieg so sehr glich, die Gesichter, das Geschrei, die Flüche und Verwünschungen, alles war identisch, und es kam ihm seltsam vor, dass er nichts verstand. Er griff sich an die Ohren, um zu prüfen, ob etwas nicht stimmte, und er lacht, als er mir das erzählt. Er hat es aufgegeben, die Stadt war fremd. Es muss wegen des Meeres sein, das sie zurückhält, die Stadt, und sie nicht fortlässt, denn auch er muss bleiben, er kann nicht weiter zu Fuß nach Jerusalem gehen. Die Schiffe fahren nach Amerika, nicht ins Heilige Land. Darum bleibt er, er sagt: Ich bleibe ein bisschen. Das war Ende fünfundvierzig, die Leute brauchen Schuhe, sie wollen heiraten, Neapel ist voller Hochzeiten, Rafaniello bleibt und wartet. Ich bin wie gebannt, wenn ich in der Werkstatt seinen Geschichten zuhöre, ich muss mich kneifen, um wieder an die Arbeit zu gehen.
J EDER VON UNS hat einen Engel bei sich, so sagt er, und die Engel reisen nicht, wenn du wegfährst, verlierst du ihn, es muss dir ein anderer begegnen. Der, den er in Neapel findet, ist ein langsamer Engel, er fliegt nicht, er geht zu Fuß: »Du kannst nicht nach Jerusalem gehen«, sagte der Engel sofort zu ihm. Worauf muss ich denn warten, fragt Rafaniello. »Mein lieber Rav Daniel«, antwortet der Engel, der Rafaniellos richtigen Namen kennt, »du wirst mit Flügeln nach Jerusalem fliegen. Ich gehe zu Fuß, obwohl ich ein Engel bin, und du wirst mit einem Paar Flügeln, die so stark sind wie die des Geiers, bis zur Westmauer der Heiligen Stadt gelangen.« Und wer gibt sie mir, beharrt Rafaniello. »Du hast sie schon«, sagt ihm der Engel, »sie stecken in der Hülle deines Buckels.« Rafaniello ist traurig darüber, dass er nicht aufbrechen kann, glücklich über den Buckel, der bis dahin ein Sack Kartoffeln und Knochen auf dem Rücken war, ein Sack, den man niemals abladen konnte: Es sind Flügel, es sind Flügel, erzählt er mir und senkt noch mehr die Stimme, und
Weitere Kostenlose Bücher