Montgomery & Stapleton 05 - Das Labor des Teufels
vorschlug, nicht dem regulären Ablauf entsprach. Mrs Donnatello vom PR-Büro zu umgehen und Vorabinformationen rauszugeben, würde Bingham und Calvin auf die Palme bringen. Beide waren Pedanten, was Vorschriften betraf. Aber Laurie hatte das Gefühl, der McGillan-Fall rechtfertigte diese Verfahrensänderung. Gleich am Anfang ihres Gesprächs mit ihnen hatte sie erfahren, dass der Vater pensionierter Arzt war und früher in Westchester County eine große Praxis als Internist geführt hatte. Er und seine Frau Judith, die bei ihm als Sprechstundenhilfe gearbeitet hatte, waren nicht nur Berufskollegen, sie waren auch äußerst sympathisch. Die McGillans strahlten eine Ehrlichkeit und Güte aus, dass man sie auf Anhieb ins Herz schloss. Aber dadurch wurde es auch unmöglich, sich nicht von ihrem Schmerz mitreißen zu lassen.
»Ich verspreche, Sie auf dem Laufenden zu halten«, fuhr Laurie fort und hoffte, dass ihre beruhigenden Worte die McGillans veranlassen würden, nach Hause zu gehen. Sie waren schon seit Stunden hier im Leichenschauhaus, und beide waren sichtlich erschöpft. »Ich kümmere mich persönlich um Ihren Sohn.« Laurie musste nach diesem letzten Satz zur Seite schauen, da sie die Eltern bewusst in die Irre führte. Wieder kam ihr das Gedränge der Reporter im Eingangsbereich in den Blick, auch wenn sie versuchte, sie zu ignorieren. Gedämpftes Gejohle drang zu ihr vor, als den Reportern Kaffee und Krapfen gebracht wurden. Laurie zuckte zusammen – so ein Pech, dass ausgerechnet jetzt dieser Medienzirkus inszeniert wurde! Die Schäkereien und das Gelächter würden den Schmerz der McGillans nur noch schlimmer machen.
»Es ist einfach nicht fair, dass nicht ich es bin, der da unten in dem Kühlfach liegt.« McGillan schüttelte traurig den Kopf. »Ich hatte ein hervorragendes Leben. Ich bin fast siebzig. Ich habe zwei Bypassoperationen hinter mir und mein Cholesterin ist zu hoch. Warum bin ich hier oben, während mein Sohn Sean da unten liegt? Das ergibt keinen Sinn. Er war immer ein gesunder, aktiver Junge, und er ist noch nicht mal dreißig.«
»Hatte Ihr Sohn auch einen zu hohen Cholesterinspiegel?«, fragte Laurie. Janice hatte ihrem Ermittlungsbericht nicht alles beigefügt.
»Überhaupt nicht«, antwortete McGillan. »Ich habe dafür gesorgt, dass er einmal im Jahr zur Kontrolle gegangen ist. Und jetzt, nachdem die Kanzlei, in der er gearbeitet hat, einen Vertrag mit AmeriCare abgeschlossen hat, bei dem eine jährliche Untersuchung Pflicht ist, musste er sich sowieso ständig kontrollieren lassen.«
Laurie blickte zuerst rasch auf die Uhr, dann zu den McGillans. Sie saßen kerzengerade auf dem braunen Vinylsofa, die Hände, mit denen sie die Polaroidfotos umklammerten, im Schoß gefaltet. Regen prasselte ununterbrochen gegen die Fensterscheibe. Die beiden Alten erinnerten Laurie an das Farmerehepaar auf dem Gemälde von Grant Wood, »American Gothic«. Sie strahlten dieselbe Entschlossenheit und moralische Tugend aus. Das war die gute Seite. Die schlechte war ihre puritanische Beschränktheit.
Das Problem für Laurie war, dass sie von all den Emotionen, die ein Todesfall mit sich brachte, organisatorisch abgeschirmt war und folglich wenig Erfahrung damit hatte. Mit trauernden Familien umzugehen oder ihnen bei der Identifizierung der Toten zur Seite zu stehen, war die Aufgabe anderer. Sie war auch durch eine Art akademische Distanz geschützt. Als Gerichtsmedizinerin war der Tod für sie ein Puzzle, das gelöst werden musste, um den Lebenden zu helfen. Ein weiterer Faktor war die Gewohnheit – für normale Menschen war der Tod etwas Außergewöhnliches, Laurie aber befasste sich jeden Tag damit.
»Unser Sohn wollte im Frühjahr heiraten«, sagte Mrs McGillan plötzlich. Sie hatte kein einziges Wort gesprochen, seit sich Laurie vor vierzig Minuten vorgestellt hatte. »Wir haben gehofft, wir würden Enkel bekommen.«
Laurie nickte. Der Hinweis schlug eine empfindliche Saite ihrer eigenen Seele an. Sie war gerade dabei, zu überlegen, was sie erwidern könnte, als sich Dr. McGillan plötzlich erhob. Er fasste seine Frau an die Hand und zog sie nach oben.
»Ich bin sicher, Dr. Montgomery muss an die Arbeit«, sagte er und nickte, als müsste er sich selbst überzeugen, während er die Polaroidfotos einsteckte. »Es ist das Beste, wenn wir nach Hause gehen und Sean Ihrer Obhut überlassen.« Er zog einen kleinen Block und einen Stift aus seiner Jackeninnentasche und riss einen Zettel ab, nachdem
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