Montgomery & Stapleton 07 - Die Seuche Gottes
der Durchsicht der Fälle beschäftigt, es würde also wohl ein arbeitsamer Tag. Laurie hatte sich auf den Sessel neben Vinnie gesetzt, der immer noch hinter seiner Zeitung steckte, und hielt ein paar Umschläge auf dem Schoß.
Da fielen Jack die Presseleute in der Eingangshalle ein, und er fragte Lou aus der Ferne, welcher seiner drei Fälle denn die Journalisten schon so früh ans OCME gelockt hätte. Vermutlich ja die Wasserleiche, aber Jack konnte sich eigentlich nicht vorstellen, was daran für die Medien so besonders interessant sein sollte. In einer Stadt von der Größe New Yorks waren Gewalttaten einfach zu alltäglich geworden.
»Keiner von denen«, rief Lou zurück. »Die Pressemeute leckt sich die Finger nach einem Kerl namens Concepcion Lopez. Er ist im Polizeigewahrsam ums Leben gekommen, in der Bronx. Ich fürchte, da soll wieder mal so ein Tamtam wegen angeblich übertriebener Gewaltanwendung angezettelt werden. Soweit ich gehört habe, ist der Typ ausgerastet, weil er eine Überdosis Kokain im Blut hatte.«
Jack nickte nur und war froh, dass er damit nichts zu tun hatte. Ein Toter im Polizeigewahrsam zog unweigerlich eine politische Katastrophe nach sich, was Jack als sehr schwierig empfand. Immer waren alle mit dem Bericht unzufrieden, und immer hieß es, es sei etwas vertuscht worden.
»Wir sehen uns dann unten«, sagte Lou und erhob sich unter Mühen aus seinem Sessel. »Ich will noch eben in Sergeant Murphys Kabäuschen vorbeischauen. Vielleicht ist ja mittlerweile eine Vermisstenmeldung für unsere unbekannte Wasserleiche eingegangen.«
»Ist dir Lous nicht identifizierter Wassermann schon begegnet?«, wandte sich Jack an Riva.
Ohne Zögern zeigte sie auf den obersten Umschlag des Stapels mit den eindeutigen Mordfällen und gab ihn ihm.
»Und die beiden mit den stumpfen Schlagverletzungen?«, fragte Jack. »Die Namen lauten Thomas und Barlow.«
Riva musste sie erst suchen. Der Stapel war heute ungewöhnlich hoch.
»Wieder mal eine schlimme Nacht im Big Apple«, bemerkte Jack. »Man sollte doch eigentlich meinen, dass die Leute ihre Konflikte ein bisschen friedlicher lösen können.«
Riva lächelte höflich über Jacks nur mäßig witzigen Spruch. Es war noch zu früh am Morgen, um verbal darauf einzugehen. Sie entdeckte die entsprechenden Umschläge und reichte sie ihm ebenfalls.
»Was dagegen, wenn ich die bearbeite?«, fragte Jack.
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Riva mit ihrer weichen Samtstimme. Sie war eine zierliche, sanfte Frau indianischer Abstammung mit dunkler Haut und noch dunkleren Augen.
»Wer bearbeitet den Fall mit dem Tod im Polizeigewahrsam?«, erkundigte sich Jack.
»Der Chef hat telefonisch mitgeteilt, dass er das selbst übernehmen möchte«, erwiderte Riva. »Und da ich am Telefon war, muss ich ihm wohl dabei assistieren.«
»Mein Beileid«, sagte Jack. Dr. Harold Bingham verfügte zwar über ein enzyklopädisches gerichtsmedizinisches Wissen, aber ihm bei einem Fall zu assistieren, war immer auch eine Übung in Frustrationstoleranz. Egal, was man als Assistent auch machte, es war das Falsche, und die Untersuchung zog sich jedes Mal unendlich in die Länge.
Jack wollte gerade Vinnie aus seiner durch Sportergebnistabellen hervorgerufenen Trance wecken, da hob Laurie den Blick. Im Gegensatz zu Jack, dem es vollkommen genügte, die Unterlagen der einzelnen Fälle vor der Obduktion kurz zu überfliegen, las sie sich alles bis ins kleinste Detail vorher durch. Während Jack das Gefühl hatte, dass zu viele Einzelheiten ihm die Fähigkeit zu einem vorurteilslosen Urteil nahmen, meinte Laurie, dass sie eher etwas übersehen konnte, wenn sie nicht die gesamte Vorgeschichte kannte. Sie hatten sich über diesen Punkt schon öfter gestritten, hatten sich aber schließlich darauf geeinigt, dass sie sich nicht einigen konnten.
»Das hier solltest du dir mal durchlesen«, sagte Laurie mit ernster Stimme und streckte Jack eine Akte hin. »Das dürfte dich persönlich ziemlich unangenehm berühren.«
»Ach?«, meinte Jack in fragendem Ton. Der Name des Opfers, David Jeffries, kam ihm nicht bekannt vor. Lauries Bemerkung und ihr Tonfall verwirrten ihn, deshalb holte er mit zusammengezogenen Augenbrauen die Unterlagen aus dem braunen Umschlag. »Wie meinst du das denn, es wird mich ›persönlich unangenehm berühren‹?«
»Lies mal die Bemerkung des kriminaltechnischen Assistenten«, meinte Laurie. Kriminaltechnische Assistenten waren Assistenzärzte, die als
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