Montgomery & Stapleton 07 - Die Seuche Gottes
ziehen.«
»Tun wir doch auch«, pflichtete Jack ihr bei. »Lass uns das Thema wechseln. Wenn du unbedingt willst, dann lass uns heute Abend noch mal darüber sprechen.«
Jack drückte Laurie die Hand, und sie erwiderte seinen Händedruck. Sie kannte Jack gut genug, um zu wissen, dass sie seine Bereitschaft zu einem erneuten Gespräch als kleinen Sieg verbuchen konnte.
Als die Ampel an der Ecke 30 th Street und First Avenue auf Grün sprang, fuhr der Taxifahrer einen weiten Linksbogen und hielt vor einem betagten sechsstöckigen, blau verglasten Backsteingebäude mit Fensterstreben aus Aluminium an, das eingeklemmt zwischen dem Medical Center der New York University und dem Bellevue Complex stand. Sie waren vor dem Office of the Chief Medical Examiner, kurz OCME, dem Gerichtsmedizinischen Institut der Stadt New York, eingetroffen. Laurie arbeitete seit sechzehn Jahren hier, Jack seit zwölf. Jack war zwar älter als Laurie, aber er hatte vor seiner Karriere als Kriminalpathologe bereits eine eigene Praxis besessen, die dann von einem großen Gesundheitszentrum, einer sogenannten Health-Maintenance-Organisation, geschluckt worden war, damals, als diese riesigen Behandlungszentren gerade groß in Mode gekommen waren.
»Da scheint irgendwas Besonderes los zu sein«, sagte Jack. Vor ihnen parkten die Übertragungswagen diverser Fernsehnachrichtensender. »Interessante Todesfälle locken Journalisten an wie der Honig die Fliegen. Da bin ich ja mal gespannt.«
»Ich persönlich würde Journalisten ja eher mit Aasgeiern vergleichen«, bemerkte Laurie, während sie nach rechts ausstieg und sich dann noch einmal in das Taxi beugte, um Jacks lange, sperrige Krücken hervorzuholen. »Sie ernähren sich von totem Fleisch, zerstören jede Menge Indizien und können einem wahnsinnig auf die Nerven gehen.«
Jack bezahlte den Fahrpreis und musste zugeben, dass Lauries Vergleich treffender und klüger war als seiner. Auf der Straße griff er nach seinen Gehhilfen, klemmte sie sich unter die Achseln und ging auf die Treppe zu. »Ich hasse Taxis«, grummelte er vor sich hin. »Da komme ich mir immer so verwundbar vor.«
»Das ist wirklich ein bemerkenswerter Satz aus dem Mund eines Mannes, der es normal findet, tagtäglich zur Hauptverkehrszeit mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren«, spöttelte Laurie.
Wie erwartet, standen bereits ein halbes Dutzend Journalisten im Eingangsbereich des OCME herum, unterhielten sich angeregt und vertilgten Kaffee im Pappbecher und Doughnuts. Auf den Stapeln mit veralteten Zeitschriften auf dem Kaffeetischchen balancierten etliche Fernsehkameras. Als Jack und Laurie das Foyer durchschritten, warfen die Journalisten ihnen einen kurzen Blick zu. Jack war trotz der Krücken sehr flink. Er konnte das verletzte Knie zwar ohne große Schmerzen belasten und wäre daher auch ohne Gehhilfen zurechtgekommen, aber er wollte keine zweite Verletzung riskieren. Marlene Wilson saß hinter dem Empfangsschalter und betätigte den Türöffner, sodass sie in der Anmeldung standen, noch bevor einer der Journalisten sie erkannt hatte.
In der Anmeldung befanden sich bereits zwei Menschengruppen, die jeweils eine Seite des Raumes besetzt hielten. Die eine bestand aus sechs Latinos aller Altersstufen. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie vermutlich miteinander verwandt waren. Zwei Kinder gehörten dazu, die der unheimlichen und fremden Umgebung mit großen Augen begegneten. Drei jüngere Erwachsene redeten im Flüsterton auf eine ältere, matronenhafte Frau ein, die sich immer wieder mit einem Papiertaschentuch die Augen tupfte.
Auf der anderen Seite des Raumes saßen ein Mann und eine Frau, vermutlich ein Ehepaar. Auch sie wirkten, genau wie die Latinokinder, wie Rehe, die plötzlich vom Lichtkegel eines Scheinwerfers erfasst worden waren.
Durch eine dritte Tür gelangten Laurie und Jack in ein weiteres Zimmer. Dort stand die Kaffeemaschine des OCME, und dort ging der jeweils zuständige Gerichtsmediziner – eine Pflicht, die im wöchentlichen Rhythmus wechselte – die Fälle durch, die über Nacht hereingekommen waren, und entschied, wo eine Obduktion notwendig war und welcher der insgesamt elf Pathologen welchen Fall übernehmen sollte. Laurie und Jack waren fast immer zu früh dran, was in der Regel auf Jacks Drängen zurückzuführen war. Laurie war eher ein Nachtmensch und kam morgens meist nur sehr schwer aus den Federn. Jack hingegen war gerne ein wenig früher als die anderen bei der Arbeit, weil er
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