Montgomery u Stapleton 03 - Chromosom 6
haben.«
»Wovon reden Sie?« fragte Marvin entgeistert. »Sie haben richtig gehört«, erklärte Laurie. »In der Autopsiemappe war kein Röntgenbild, und die Filme habe ich auch nicht gefunden, als ich sie hier unten gesucht habe, bevor ich entdeckt hatte, daß die Leiche verschwunden war.«
»Ich habe die Leiche aber geröntgt«, stellte Marvin klar. Er war offenbar zutiefst beleidigt, weil Laurie annahm, er hätte es vergessen. »Ich röntge grundsätzlich jede Leiche, die zu uns gebracht wird - es sei denn, einer der Pathologen erteilt mir ausdrücklich die Anweisung, es nicht zu tun.«
»Und wo sind dann die Bilder und die Filme?« wollte Laurie wissen.
»Was mit der Aufnahme passiert ist, weiß ich nicht«, erwiderte Marvin. »Die Filme hat Dr. Bingham.«
»Bingham hat die Filme mitgenommen?« hakte Laurie nach. Sie fand das zwar äußerst merkwürdig, aber wahrscheinlich hatte er sie an sich genommen, weil er die Obduktion am nächsten Morgen persönlich hatte vornehmen wollen. »Er hat mir gesagt, er würde sie mit in sein Büro nehmen«, erklärte Marvin. »Hätte ich dem Boß etwa sagen sollen, daß er sie nicht mitnehmen darf? Das kann ich mir nicht erlauben!«
»Natürlich nicht«, sagte Laurie schnell. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Daß nun doch Röntgenaufnahmen von Franconis Leiche existierten, kam für sie völlig überraschend. Ohne die dazugehörige Leiche konnte sie nicht viel damit anfangen, aber sie fragte sich, warum man ihr die Existenz der Filme verschwiegen hatte. Andererseits hatte sie Bingham erst wieder zu Gesicht bekommen, als bereits bekannt gewesen war, daß die Leiche entführt worden war.
»Ich bin froh, daß ich mit Ihnen gesprochen habe«, sagte Laurie, als sie aus ihrer Grübelei erwachte. »Außerdem möchte ich mich dafür entschuldigen, daß ich Sie verdächtigt habe, die Leiche nicht geröntgt zu haben.«
»Ist schon okay«, entgegnete Marvin.
Sie wollte gerade gehen, als ihr das Beerdigungsinstitut Spoletto in den Sinn kam. Sie fragte Marvin, was er von dem Unternehmen halte.
Marvin zuckte mit den Achseln. »Was soll ich Ihnen erzählen?« fragte er. »Ich weiß nicht viel über das Institut. Da gewesen bin ich noch nie, falls Sie das meinen.«
»Was sind das zum Beispiel für Leute, die von Spoletto zu uns kommen?« fragte Laurie.
»Ganz normale Leute«, erwiderte Marvin und zuckte wieder mit den Achseln. »Wahrscheinlich habe ich sie nur ein paarmal zu Gesicht bekommen. Ich weiß wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen.«
Laurie nickte. »War eine dumme Frage. Ich weiß selber nicht, worauf ich eigentlich hinauswill.«
Sie verabschiedete sich von Marvin und verließ die Leichenhalle über die Laderampe, die auf die 30th Street hinausführte. Irgendwie hatte sie den Eindruck, daß bei dem Franconi-Fall rein gar nichts so verlief wie gewöhnlich. Als sie über die First Avenue in Richtung Süden schlenderte, kam sie plötzlich auf die Idee, daß es doch recht verlockend wäre, dem Spoletto Funeral Home einen Überraschungsbesuch abzustatten. Sie zögerte kurz, überlegte noch einmal und trat dann auf die Straße und winkte ein Taxi heran. »Wo soll’s denn hingehen, junge Frau?« fragte der Fahrer. Wie Laurie seiner Lizenz entnahm, hieß er Michael Neuman. »Wissen Sie, wo Ozone Park liegt?« fragte Laurie. »Klar«, erwiderte Michael. »Das ist drüben in Queens.« Michael war schon etwas älter, Laurie schätzte ihn auf Ende Sechzig. Er saß auf einem Schaumgummikissen, das an mehreren Stellen aufgeplatzt war. Über seiner Rückenlehne hing ein Holzperlengeflecht.
»Wie lange brauchen wir bis dahin?« wollte Laurie wissen. Wenn es Stunden dauerte, wollte sie lieber doch nicht hinfahren.
Michael dachte kurz nach und preßte dabei die Lippen aufeinander. »Nicht lange«, sagte er dann vage. »Im Moment ist nicht viel Verkehr. Ich war gerade draußen am Kennedy-Flughafen und bin astrein durchgekommen.«
»Okay«, entgegnete Laurie. »Fahren Sie los.« Michael hatte recht gehabt, sie kamen zügig voran. Als sie den Van Wyck Expressway erreichten, waren sie schon fast am Ziel. Unterwegs erfuhr Laurie, daß Michael schon seit über dreißig Jahren Taxi fuhr. Er war äußerst gesprächig, hatte zu allem eine Meinung und verströmte irgendwie einen väterlichen Charme.
»Kennen Sie zufällig die Gold Road?« fragte Laurie. Sie hatte wirklich Glück, daß sie einen Taxifahrer erwischt hatte, der sich auskannte. Da sie den Kalender des Leichenhallenbüros
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