Montgomery u Stapleton 03 - Chromosom 6
gewesen war, war ihr damals neunzehnjähriger Bruder an einer Überdosis Rauschgift gestorben. Es war für sie in jeder Hinsicht ein traumatisches Erlebnis gewesen, doch der Schock hatte besonders tief gesessen, weil sie es gewesen war, die ihren Bruder gefunden hatte.
»Dr. Montgomery«, hörte sie hinter sich eine leise, salbungsvolle Stimme. »Ich bin Anthony Spoletto. Wie ich gehört habe, sind Sie gekommen, um Mr. Frank Gleason die letzte Ehre zu erweisen.«
»Das ist richtig«, entgegnete Laurie und wandte sich zu dem Mann um, der ebenfalls einen schwarzen Anzug trug. Er war fettleibig und sah genauso schmierig aus, wie seine Stimme vermuten ließ. Seine glänzende Stirn reflektierte das Licht der hellen Deckenlampen.
»Das ist leider nicht möglich«, erklärte Mr. Spoletto. »Ich habe aber heute nachmittag angerufen«, erklärte Laurie. »Man hat mir gesagt, Mr. Gleason sei aufgebahrt.«
»Stimmt«, entgegnete Mr. Spoletto. »Aber das war heute nachmittag. Auf Wunsch der Familie durfte dem Toten zwischen sechzehn und achtzehn Uhr die letzte Ehre erwiesen werden.«
»Ich verstehe«, sagte Laurie gedehnt. Sie hatte ihren Besuch nicht bis ins Detail durchgeplant und eigentlich vorgehabt, sich einfach erst einmal den Toten anzusehen, um eine Ausgangsbasis für weitere Nachforschungen zu haben. Da der tote Gleason nun nicht mehr da war, stand sie ziemlich dumm da. »Vielleicht könnte ich mich wenigstens in das Kondolenzbuch eintragen«, schlug sie deshalb vor.
»Ich fürchte, das ist auch nicht mehr möglich«, entgegnete Mr. Spoletto. »Die Familie hat es bereits mitgenommen.«
»Na dann eben nicht«, sagte Laurie und zuckte mit den Schultern.
»Tut mir leid«, entgegnete Mr. Spoletto. »Wissen Sie, wann die Beerdigung stattfindet?« fragte Laurie. »Im Moment noch nicht«, erwiderte Mr. Spoletto. »Danke«, sagte Laurie.
»Nichts zu danken«, entgegnete Mr. Spoletto und öffnete ihr die Tür.
Laurie ging hinaus und stieg in das wartende Taxi. »Und?« fragte Michael. »Wo soll’s jetzt hingehen?« Laurie nannte ihm ihre Hausnummer auf der 19th Street und beugte sich ein wenig vor, um noch einen letzten Blick auf das Spoletto Funeral Home zu werfen. Ihr kleiner Abstecher hatte nichts gebracht. Oder vielleicht doch? Immerhin hatte sie kurz mit Mr. Spoletto gesprochen und dabei festgestellt, daß es keineswegs Fett gewesen war, das auf seiner Stirn geglänzt hatte. Der Mann hatte geschwitzt, und das, obwohl es in dem Besucherraum des Bestattungsinstitutes empfindlich kühl war. Sie fragte sich, ob das wohl irgend etwas zu bedeuten hatte oder ob sie nur wieder nach dem erstbesten Strohhalm griff.
»War es ein Bekannter von Ihnen?« fragte Michael. »Wer war ein Bekannter?«
»Na, der Verstorbene.«
»Wohl kaum«, erwiderte Laurie und lachte kurz und freudlos auf.
»Ich weiß schon, was Sie meinen«, sagte Michael, während er Laurie durch den Rückspiegel musterte. »Beziehungen funktionieren heutzutage manchmal sehr kompliziert. Und ich erzähle Ihnen jetzt mal, warum…«
Laurie lächelte und lehnte sich zurück, um dem Mann zuzuhören. Sie liebte es, wenn Taxifahrer über die Welt philosophierten, und unter seinesgleichen war Michael ein regelrechter Plato.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten und der Taxifahrer rechts an den Rand fuhr, sah Laurie eine bekannte Gestalt in der Eingangshalle stehen. Es war Lou Soldano, der sich erschöpft auf die Briefkästen stützte; mit der einen Hand umklammerte er eine Papiertüte, in der sich offensichtlich eine Weinflasche befand. Laurie bezahlte, gab Michael ein großzügiges Trinkgeld und eilte zu Lou.
»Tut mir leid, daß du warten mußtest«, sagte sie. »Ich dachte, du wolltest vorher anrufen.«
Lou blinzelte, als ob er gerade geschlafen hätte. »Ich habe ja angerufen«, entgegnete er und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. »Ich habe dir aufs Band gesprochen, als ich mich auf den Weg gemacht habe.«
Laurie warf einen Blick auf ihre Uhr und schloß die Tür zum Treppenhaus auf. Wie sie erwartet hatte, war sie nur eine gute Stunde weg gewesen.
»Du wolltest doch nur noch eine halbe Stunde arbeiten, oder?« fragte Lou. »Ich habe gar nicht mehr gearbeitet«, entgegnete Laurie und drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Ich habe dem Spoletto Funeral Home einen kurzen Besuch abgestattet.« Lou runzelte sorgenvoll die Stirn.
»Jetzt fang du nicht auch noch an, an mir herumzumäkeln!« sagte Laurie, als sie den Fahrstuhl betraten. »Und?« fragte Lou
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