Moon
im Meer Verlorenen waren, die in ihrem sternenlosen Gefängnis für immer trauerten. Der Gedanke amüsierte es.
Ein übler Geruch hing schwer in der Luft in Innern des zerfallenden Turmes - eine Mischung aus Urin, Fäkalien und Fäulnis... eine Schmähung all jener, die sich wenig aus Monumenten und noch weniger aus deren Geschichte machten; doch dieser Gestank störte das Etwas nicht, das sich in der trostreichen Schwärze aufhielt. Es genoß den Zerfall.
Irgendwo in den Tiefen der Nacht schrie ein winziges Tier, Beute eines anderen, schnelleren und tödlichen Tieres.
Es lächelte.
Die Kraft regte sich und wuchs. Der Mann war ein Teil dieses Wachsens. Doch er wußte es nicht.
Er würde es erfahren. Sehr bald.
Und für ihn würde es zu spät sein.
Estelle Piprelly starrte suchend in die Finsternis. Der Mond war von mächtigen Wolken verhüllt, so daß unterhalb ihres Fensters kaum etwas auszumachen war. Die Rasenflächen waren schwarze Ebenen, die Bäume gigantische Schatten, und das Meer donnerte noch immer gegen die tiefen Abgründe der Klippen - trotzdem und wider besseres Wissen schien es außerhalb der Grenzen ihres Zimmers nur das Nichts zu geben. So intensiv spürte sie ihre Einsamkeit, daß das Leben selbst nur eine Illusion hätte sein können, eine aus dem eigenen Verstand geborene Phantasie.
Wie leicht so etwas geschehen konnte... Nun, die Einsamkeit war für sie nichts Neues, trotz der mit Arbeit überfüllten Tage und pflichterfüllter Stunden; es war diese neue, drohende Leere, die eine tiefer sitzende dunkle Vorahnung weckte - und sie war nur schwer zu ertragen. Denn die Stimmung der Nacht verkündete... Gefahr.
Sie wandte sich vom sanften Gespenst ihres Spiegelbildes im Fensterglas ab. Ihre Schultern waren leicht gebeugt - und diese Veränderung ihrer berühmten stockgeraden Haltung schien ihren Charakter selbst zu verändern und sie gebrechlich - verletzlich - zu machen. Ziellos schritt sie in dem Zimmer umher, das Teil ihrer Wohnung im College war; ihre Bewegungen erfolgten nur zögernd. Tiefe Linien hatten sich in ihr Gesicht eingegraben, und ihre Finger krümmten und ballten sich in den Taschen der langen, gestrickten Wolljacke, die sie trug, zu Fäusten. Ihre Lippen waren weniger fest als üblich.
Es war nicht allein die finstere Unbehaglichkeit dieser Nacht, welche die Direktorin des La Roche quälte, auch nicht die beunruhigende Stille der späten Stunde: der Tod persönlich hatte ihr heute einen spöttischen Gruß entboten. Sein unheiliges Antlitz war in den Gesichtern einiger ihrer Mädchen zu erkennen gewesen. Genau wie damals, vor so vielen Jahren, da sie als Kind das nicht verstehen, sondern nur bewußt wahrnehmen konnte, das nahe Ende so vieler deutscher Soldaten vorausgeahnt hatte - genau so hatte sie jetzt die Totenmasken ihrer Schülerinnen gesehen.
Die Unruhe schwächte sie, zwang sie, sich zu setzen. Auf dem Sims des unbenutzten Kamins zählte eine kup-pelförmige Uhr mit in lackiertem Holz eingelassenem Zifferblatt die Sekunden, und sie hatte das Gefühl, als höre sie die Schläge eines erlöschenden Herzens. Sie zog die Strickjacke fester um sich, preßte die Wolle an ihren Hals; die Kälte kam aus ihr selbst.
Miss Piprelly, rasch gealtert und beinahe zitternd, ließ ihre Gedanken abschweifen. Sie konzentrierte sich, versuchte hinauszugreifen. Sie wollte wahrnehmen, obgleich sie letzten Endes doch genau wußte, daß sie nicht die Kraft dazu hatte; ihre Gabe reichte nicht aus. Sie war in keiner Weise auch nur annähernd vergleichbar mit derjenigen von Jonathan Childes. Wie befremdlich, daß er sein Potential selbst nicht einmal kannte.
Das Geheimnis dieses Mannes ängstigte sie.
Ein kühler Windhauch strich am Fenster entlang, und sie wandte sich um. Was erwartete sie? Daß der Tod selbst zu ihr hereinspähte?
Miss Piprelly sann darüber nach, wie sicher die Schule war. Wunderbar, ein Polizist bewachte in einem Wagen sitzend das Haupttor; er verließ den Wagen häufig, um das Gelände zu durchstreifen, Türen und Fenster zu überprüfen und mit der Taschenlampe in umliegendes Gestrüpp zu leuchten. Doch konnte ein einzelner Polizist tatsächlich jemanden davon abhalten, in eines dieser Gebäude mit ihren zahlreichen Türen und Fenstern einzudringen? Der unregelmäßig angelegte Gesamtkomplex der Schule erschwerte jeden Überblick und bot ein leichtes Versteck für umhergeisternde Subjekte. Gerade an diesem Nachmittag hatte sie mit Inspector Robillard gesprochen und
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