Moonshadow - Das Schwert des grauen Lichts
unterbrochen werden oder fühlen, dass noch eine weitere Sitzung nötig wäre,
um die Karte zu verinnerlichen, würde er sie in der Zwischenzeit in der Zimmerdecke verstecken. Sie zu welcher Zeit auch immer am Körper zu tragen, wäre zu gefährlich. Wenn er verletzt, gefangen oder durchsucht würde, wäre es schon schlimm genug, dass ihn die versteckten Waffen als Spion verraten würden. Die Entdeckung der Karte würde etwas weitaus Schlimmeres anrichten: Sie würde seinen Feinden den Zweck seiner Mission verraten und es jedem Spion, der ihn ersetzen würde, noch schwerer machen. Wenn er sich der genauen Kenntnis der Karte erst sicher wäre, würde er sie verbrennen und die Asche zerstreuen, denn selbst aus der Asche konnte ein geübtes Auge Schlussfolgerungen ziehen.
Nur ein Detail würde auf der Karte ausgelassen werden, für den Fall, dass man sie doch entdeckte: die Fluchtroute für die Zeit nach der Erfüllung seiner Mission. Ein un benannter und kaum bekannter Pfad, der ihm erst kurz, bevor er das Kloster verlassen hatte, beschrieben worden war, schlängelte sich im Osten durch das Land nahe Fush imi zu einer Schlucht, in der die Agenten des OGL sich mit ihm treffen würden.
Wo ge nau dieser Pfad begann sowie der Tag und die Stunde des Zusammentreffens waren wichtige Geheimnisse, die er weder aufschreiben noch verraten würde. Aus guten Gründen hatte man ihm diese Dinge erst im allerletzten Moment mitgeteilt. Ein Shinobi musste jederzeit mit plötzlicher Gefangennahme rechnen, und je we niger jeder einzelne wusste, umso sicherer blieben die anderen. Moon saß mit
gekreuzten Beinen auf dem Boden und ließ seinen Blick wieder und wieder über die Karte gleiten.
Plötzlich spürte er Gefahr. Er wandte den Kopf und lauschte. Das Plappern verschiedener Stimmen, das Klicken der Stäbchen aus der Gaststube und eine Tür in der Ferne, die sich öff nete. Schritte. Keine ungewöhnlichen oder beunruhigenden Laute, doch jetzt konnte er den Mann riechen, der den Korridor entlangkam; ein Mann, der zu vie le Mochi aß, die höchst berauschenden Reiskuchen. Moon wusste, zu wem der sirupartige Geruch hier gehörte. Der Wirt! Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tusche trocken war, faltete er die Karte rasch zu einem höchst kunstvollen flachen Knoten. So würde er bei der nächsten Überprüfung so fort merken, ob jemand die Karte geöffnet hatte.
»Danke, Heron«, lächelte er dankbar. »Noch so ein nützlicher Trick, den du mir beigebracht hast.« Als er aufstand und die verknotete Karte in sei nen Gürtel zurrte, erinnerte sich Moon, wie Heron ihm einmal ein winziges originalgetreues Rentier aus Papier gegeben hatte. Es war eine Belohnung. Nanashi hatte über eine gan ze Woche perfekte Körperpflege durchgehalten!
Heron wäre jetzt sicher stolz auf ihn, dachte er verlegen. Seit er im Wald auf die jun ge Göttin gesto ßen war, hatte Moon sich dabei ertappt, sich morgens das Gesicht viel gründlicher zu waschen. Und er hatte sich auch viel mehr Mühe mit dem Kämmen und Binden seiner Haare gegeben.
Er atmete einmal tief durch und sprang dann von
der Matte auf und in eine Ecke des Raumes. Wie ein großes Insekt klemmte er sich dorthin, wo die beiden Wände und die Decke aufeinandertrafen. Eine Handfläche auf den nächsten Dachsparren gestemmt, spreizte er die Beine und presste die Sohlen gegen die aufeinander zulaufenden Wände. Moon fischte die Karte aus sei nem Gürtel. Er schob sie vorsichtig in einen mit Spinnweben bedeckten Schlitz zwischen dem Dachsparren und einer Deckenplanke. An der Schiebetür wurde verhalten geklopft. Er ließ sich leise wieder auf die Matte fallen und richtete sich auf, gerade rechtzeitig, bevor die Tür sich öffnete.
»Ach! Du bist ja doch da!« Die flache Stirn des Gastwirts war mit süßlich riechenden Schweißtröpfchen bedeckt. Er war ein plumper, freundlicher Mann, dessen Blicke und Gesten Moon zeigten, dass er ein echtes und freundliches Interesse an ihm hatte. Der Wirt zeigte mit dem Daumen über seine Schulter.
»Junger Herr, … ein Mann wartet auf dich, drau ßen auf der Straße.«
»Auf mich?« Moon runzelte die Stirn. »Wie kann er überhaupt von mir wissen?«
»Wer kann das schon sagen?« Die Stimme des Wirts senkte sich zu einem Flüstern. »Er hat schon alle jungen Männer in der Gegend befragt. Sei vorsichtig. Ich kenne ihn nicht, aber vielleicht ist er ein Polizist. Es ist dieser sondierende Blick.«
Der Wirt grummelte noch eine Warnung und wandte sich ab.
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