Moonshadow - Das Schwert des grauen Lichts
eine Papierlaterne in der Hand und suchte die dunklen Ecken nach Saru ab. Ein plötzliches Kreischen des Tieres über seinem Kopf hatte Nanashi zu Tode erschreckt. Er hob seine
Laterne und entdeckte, dass die größte und ge naueste Landkarte zerrissen war und in Fetzen dahing, während Saru von Kopf bis Schwanz erkennbar mit ihren nassen Farben bekleckert war. Es ge hörte zu Nanashis Aufgaben, beschädigte Landkarten zu reparieren oder von Grund auf neu zu zeichnen.
Er verfluchte das Biest. Mit glitzernden Augen schwenkte Saru einen tropfenden Pinsel vor seiner Nase herum.
»Du bist ein Dämon!«, hatte Nanashi gestöhnt und mit dem Fuß aufgestampft. »Komm sofort runter, ich zerre dich sofort vor Bruder Badger.« Er hatte die Lampe unter Saru gehalten. »Monster! Lass den Pinsel los! Du hast doch schon dein Schlimmstes gegeben!«
Der Affe hatte ihn angestarrt und sei nen Kopf hin und her bewegt, als würde er seine Worte überdenken. Dann hatte er mit den Augenbrauen gezuckt, sich umgedreht und seinen Schwanz gehoben. Zu spät hatte Moon den Plan des kleinen haarigen Monsters durchschaut. Flu chend hatte er versucht zu fliehen, als es schon nass auf ihn nie derprasselte. In wenigen stinkenden Sekunden, die er nie vergessen würde, verlosch die Laterne, und sein Gewand und seine Haare wurden von der allerschrecklichsten Waffe der Affen durchnässt.
»Ich bring dich um! Dieses Mal meine ich es ernst!«, hatte Nanashi getobt und war rückwärts aus der Tür gelaufen, während Saru sich mit triumphierendem Geschnatter über ihn lustig machte.
Er war ge radewegs auf Badger geprallt, der so fort
zu schreien angefangen hatte: »Was ist passiert? Was ist das für eine Schweinerei? Was für ein Gestank! Oh nein, meine Landkarten!«
Moon grinste breit. Jetzt erst, nach all der Zeit, konnte er über diesen Tag lachen.
Jetzt, da er allein in seinem Zimmer hockte, fiel ihm auch das Gespräch mit Heron über Einsamkeit ein, und wieder empfand er Trost durch ihre Worte. Mehr und mehr verlor er sich in dem, was gewesen war. Schließlich blinzelte Moon und blickte dann auf das Papier und den tropfenden Pinsel in seiner Hand.
Die Kraft der Erinnerung hatte sich wieder bewährt. Während er von der Vergangenheit träumte, hatte er seine Karte von Fushimi, scheinbar ohne nachzudenken, vollendet. Jetzt musste er sie mit wachem Verstand noch einmal überprüfen. Er studierte die feuchten Linien, fing mit dem Bild der großen Burg an, arbeitete sich im Uhrzeigersinn über das Papier und verglich die Karte mit den Er innerungen dieses Morgens. Jedes Detail musste stimmen.
Sein Plan - sein Leben - hing davon ab.
Die Stadt Fushimi erstreckte sich über niedrige, lang gezogene Hügel, hinter denen gezackte Gebirgskämme den Horizont säumten. Die ursprüngliche Falzung des handgeschöpften Papierblattes hatte auf der Karte Linien hinterlassen und sie so in vier gleiche Quadrate unterteilt.
In dem Quad rat oben links zeigten sei ne Pinselstriche die Burg Momoyama, umgeben von einem breiten Burggraben und am Fuß des Hügels durch
eine einzige, schwer bewachte Brücke mit der Stadt verbunden.
Das Quadrat oben rechts zeigte ein Durcheinander düsterer Gebäude, massiver runder Bottiche und Bambusröhren, aus denen die Sakebrauerei bestand. Zusammen mit der Burg zu ih rer Linken nahm die Brauerei die höchstgelegene Fläche der Gegend ein und über blickte die gan ze Stadt. Ein lan ges, ho hes Transportband war zwischen der Brauerei und der Burg gespannt. Lord Silberwolf, der für sei ne Liebe zum Sake bekannt war, hatte es offenbar einrichten lassen, sodass ihm sein Lieblingsgetränk ohne Umwege geradewegs in die Festung geliefert werden konnte.
Unten rechts zeigte die Karte die Hauptstraße, die neben einem kleinen Schrein und einem Tori-Tor in die Stadt führte. Das Tori-Tor war ein ein facher hölzerner Durchgang, bestehend aus drei Balken, die den Eingang zu einem Heiligen Ort markierten.
Auf dem letzten Viertel unten links zeigten seine Pinselstriche die netzartigen Straßen der Stadt, die über die niedrigen Hügel in die Ferne führten.
Er legte den Pinsel weg und beobachtete, wie sich die Tinte beim Trocknen veränderte. Die Karte sah korrekt aus, sodass er sie nun in ei nem nächsten Schritt noch ein mal überprüfen konnte, um alle Details hinzuzufügen, die ihm noch einfielen, und schließlich still vor ihr zu sitzen und sie zu betrachten, bis er sie fehlerlos sehen konnte, wenn er die Augen schloss. Sollte er
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