Moor
nicht mehr. Wäre nur noch ihre Cousine in Kleenze geblieben, die sicher dichtgehalten hätte, aber bei dem Wetter fährt kein Bus.
Was das werden soll?, grinst sie und deutet auf deine Maskerade. Hat er geweint? Seine Augen scheinen ihr gerötet, die Ringe darunter auch ohne Schminke dunkel, der Rest des Gesichts ist leichenblass. Er sieht bekümmert aus, bestimmt wegen der Sache mit seiner Mutter.
In dem dünnen, halb durchsichtigen Nachthemd fühlst du dich plötzlich nackt, verstohlen schielst du an dir herab, wünschst dich raus aus dem Fummel. Wenigstens die Jacke überwerfen? Doch zwischen Garderobe und dir stehe ich, die Wand aus Kälte und hereinwirbelndem Schnee, wehe dem Spielverderber!, stößt dich das Sturmpfeifen zurück. Schau, wie gut Ronja schon ihre Rolle beherrscht! Auf der Treppe windet sich der Schal die Stufen hinauf, ein gelber Python mit roten Rauten und braunen Kringeln, wenn ihre Mutter das Ding selbst gestrickt hat, war es ein Lebenswerk. Ganz oben am Absatz kämpft der Welpe mit dem aufgerichteten Kopf der Bestie.
Mit dem Kajal musst du aber noch üben, sagt Tanja, beugt sich vor und zeigt den hauchdünnen Strich unter ihrem Augenlid. Auf ihren Wangen schimmert Puder, und der Sturm hat in ihrem Haar genau das richtige Chaos angerichtet.
Noch vor wenigen Minuten war sie das hässliche kranke Entlein, das man besser hätschelt und lieb hat, damit es einem am Ende nicht lästig fällt. Für den Schulgang wollte ihr die Mutter eine Gehhilfe aufzwingen, obwohl der Schienbeinbruch so gut wie verheilt und der Knochen jetzt zusätzlich mit einem Implantat verstärkt ist, was ihr immer noch Schmerzen bereitet. Trotzdem macht sie beim Sportunterricht schon wieder die leichten Übungen mit, zum Ärger der Pfarrersfrau, die sie am liebsten in den Rollstuhl packen würde, seit der Operation steht der schon aufgeklappt in der Ecke. Auch den Sessel im Wohnzimmer dürfte sie, wenn es nach der Mutter ginge, nicht mehr verlassen, ihr Grab zwischen dem Kissengebirge, das sich vor dem Fernseher türmt.
Beim Mittagessen ist das Fass dann endgültig übergelaufen. Frau Deichsen wimmelte Hannes am Telefon ab. Tanja warf den Löffel hin, aus dem Teller schwappte die Suppe. Ich weiß selbst, was gut für mich ist!, rief sie mit einer Stimme, die alle zusammenzucken ließ. Nach der Schule hatte sie eine Schmerztablette genommen, wollte um jeden Preis mit Hannes und seiner Clique ins Hallenbad fahren. Wie aufgeregt sie war, als der sie auf dem Schulkorridor abfing und fragte! Damit hätte sie nicht gerechnet. Viele ihrer Schulfreundinnen warten darauf, am Beckenrand des Zeever Sportbads von Hannes gepackt und ins Wasser geschleudert zu werden.
Sie müsse sich noch schonen, sagte die Mutter und schöpfte Suppe nach. Dich soll ich schonen!, rief Tanja und trat den Stuhl gegen den Tisch; die Schwester glotzte. Dann krachte die Tür, gefolgt vom Blumentopf, den ich von der Veranda wehte; im sonst stillen Hause Deichsen habe ich zum Auftakt der Nachmittagsspiele schon für ein paar lustige Szenen gesorgt.
Sie schloss sich im Zimmer ein, heulte ein bisschen, saß dann schmollend herum und suchte schließlich ein paar Aufgabenblätter zusammen. Als sie die Mutter im Keller an der Wäscheschleuder hörte, schlüpfte sie in ihre Jacke undstahl sich aus dem Haus. Ich habe sie sofort an mich gerissen und die Dorfstraße hinunter auf den Heidedamm geschleift, wo ich sie zur Lockerung schon mal flachlegte. Auf dem freien Feld bin ich mit Windstärke 10 in sie hinein, so dass sie gestürzt, im Schnee aber weich gefallen ist. Gesplittert ist nur die Birke hinter ihr; erst die Motorsäge von Bauer Lambert wird ein paar Tage später die Zufahrt wieder freiräumen. Doch dann kommt jede Hilfe zu spät. Hier ist deine neue Freundin, Dion, schau, wie schön ich sie dir zurechtgemacht habe!
Doch du stehst da wie draußen die Bäume, schwankend, zerzaust, nackt und frierend unter dem weißen Gewand. Ronja hoppelt die Treppe herunter, den Kopf der toten Schlange im Maul. Das sei jetzt langweilig, bellt der Welpe, lass uns was anderes spielen! Bäumchen, wechsel dich, knurre ich zurück und fege den Saum deines Nachthemds hoch, der Schnee schäumt bis zur Kommode. Du schnellst vor und schlägst mir die Tür vors Maul. Verdammter Mistkerl! Das war nicht abgemacht! Ich will mitspielen, schaut her, was ich euch gebracht habe: blitzende Eissplitter, lustige Böen, Geknack und Geknirsch für den schaurigen Spaß!
Mit vier Händen und
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