Moor
zwei plötzlich sehr kräftigen Körpern stemmt ihr euch gegen die Tür und schiebt mich zurück. Ich halte heulend dagegen, die Scharniere ächzen, Tanja kichert, auch du verbeißt dir jetzt das Lachen, dann klickt das Schloss.
Glück gehabt!, schnauft Tanja und lehnt sich erschöpft gegen dich. So nah hast du sie noch nie gespürt. Ihre Augäpfel sind nicht nur bis unter die Lidränder blau, auch wölben sie sich hervor, als trüge sie Linsen. Über die zwei Schulbänke hinweg, die euch trennen, hat sie auf dich stets größer gewirkt, zwar zierlich, doch irgendwie hochaufgeschossen durch die Spindelform ihres Körpers. Jetzt reicht sie dir nur knapp über die Schulter und sackt sogar ein wenig zusammen, während sie sich aus der Jacke pellt und dabei die Knie durchdrückt, was gefährlich aussieht, wie ein bis zum Bersten gespannter Bogen.
Sie ist zerbrechlicher, doch auch beweglicher als die anderen und trotz all der genagelten Knochen recht flink. Unter der Birke hat sie sich mir geschickt aus den Händen gewunden, und wenn Hannes sie heute noch zur Frau macht, biegt er sie einfach in Form: Beine zum Spagat, Arme über den Rücken, Kopf ins Genick, und jetzt, sagt er, versuche, mir mit dem Becken entgegenzukommen, und sie schiebt sich Stück für Stück über Hannes, der ihr das Bein höher drückt, bis sie aufgefächert zu einem Rad, mit den Knien an den Ohren, den heiklen Punkt überdehnt und er vor Erregung zu stöhnen beginnt, das Geräusch aus ihrem Leibesinneren wegstöhnt, das ihn endlich von seinen drückenden Phantasien erlöst.
Dafür kommt man in die Hölle, reißt sie dich aus deinen Gedanken. Du blickst sie erschrocken an. Weiß sie etwa, was du dir da gerade vorgestellt hast? Sie hat recht, Dion, trommele ich ans Fenster, solche Bilder, wie du sie dir ausmalst, sind ganz sicher des Teufels, ich meine, fällt sie mir ins Wort, es ist eine Sünde, wenn man sich das Leben zu nehmen versucht. Sagt Frau Deichsen, die Pfarrersfrau.
Die hat nämlich beim Frühstück längst Bescheid gewusst. Was Dions Mutter da getan habe, sei gegen Gottes Willen, belehrte sie ihre Töchter, der Vater nickte und musterte Tanja, die verschlafen Marmelade auf ihre Stulle löffelte und schon gemerkt hatte, dass da was im Busch ist.
Das Leben ist ein Geschenk, sagte Frau Deichsen und setzte dem Satz mit strengem Blick ein Ausrufezeichen. Und meine Krankheit?, kaute Tanja, ob die auch geschenkt sei? Die Mutter erstarrte in ihrem Stuhl. Zwischen Kranken und Gesunden, versuchte der Vater zu schlichten, mache Gott keinen Unterschied. Im Gegenteil, wer krank sei … Ich bin nicht krank, fuhr Tanja ihn an. Frau Doktor Burgwarth, ihre Ärztin, spreche vielmehr von einem Erbfehler, autosomal dominant , wandte sie sich zur Mutter und rief: Du hast mir diese Scheiße eingebrockt! Der Pfarrer schlug die Faust auf den Tisch, so entschieden, dass die Kerze aus dem Messingständer kippte. Tanja brach sie entzwei und warf die Hälften der Mutter hin. Dann schulterte sie den Ranzen. Ich applaudierte und schlug den Fensterladen gegen die Wand. Die Ouvertüre schien gelungen.
Ich finde das mutig von deiner Mutter, sagt Tanja herausfordernd, feige seien nur die anderen, die es so weit hätten kommen lassen. Du willst widersprechen, erinnerst dich an unseren Pakt, hättest trotzdem gerne gewusst, was in ihren Augen Margas Verdienst an dem Horror der gestrigen Nacht gewesen ist und was dein Versagen. Sie kramt aus ihrer Hosentasche zwei Pillen. Ein Schmerzmittel, grinst sie, schon von zwei würde man federleicht und ein wenig beschwipst, das sei wie Fliegen. Eine wirft sie sich in den Mund, die andere reicht sie dir, streckt dir dabei die Zunge hin, wo die Tablette festklebt. Doch kleine Sünden bestrafe ich sofort: Sie verschluckt sich.
Du klopfst ihr vorsichtig auf den Rücken, der sich heiß und ein wenig feucht anfühlt, vielleicht vom anstrengenden Marsch durch den Schnee. In mir ist das Kollagen kaputt, hustet sie, deshalb seien ihre Augen so komisch, undsie schwitze andauernd. Sie schnuppert an ihrer Achsel. Ob dich das störe? Schnell schüttelst du den Kopf. Und das? Sie bleckt die Zähne, die fast farblos sind, eher grau als weiß, manche zudem abgebrochen, was ein wenig an Glasscherben erinnert. Beim Küssen mache das aber keinen Unterschied, nimmt sie dir die Antwort ab, und auch der Rest an ihr sei wie bei allen anderen Mädchen ganz normal; ihre Regel hat sie, die Kleinste in der Klasse, schon vor einem Jahr bekommen, aber
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