Moor
oder sogar die Sache mit ihr gemacht hättest, würdest du das ihr, Marga, die du nicht mehr erkanntest, ganz bestimmt nicht, wie man sagt, auf die Nase binden.
Wäre sie noch die Alte gewesen, du hättest vielleicht doch die Wahrheit gesagt: Hannes, zu dem du dich nun endlich und unterm Gelöbnis der Mutter, zu schweigen und zu verstehen, bekennst, so dass sie den sechsten Sinn, von dem sie angeblich beseelt war, unter Beweis hätte stellen müssen, spüren, was ihr Kind in einer Situation wie dieser braucht, Trost, Zuspruch, Verständnis und so weiter, all das in einem hingehauchten, in dein Ohr geküssten Satz, den nur Mütter sagen können und dürfen, weil sie in solchen Momenten tatsächlich ein wenig heilig sind und mehr über das Kind wissen als das Kind über sich selbst, wie Maria, die, so hat es euch Pfarrer Deichsen im Konfirmationsunterricht erklärt, nur deshalb von Gott auserwählt wurde, da sie noch vor Jesu Geburt in das schwere Schicksal eingewilligt hatte, ihrenSohn, der für die Sünden der Menschen, auch für die der Mutter, würde sterben müssen, um viele Jahre in Armut und Einsamkeit zu überleben.
hTanja, sagtest du.
Sie blickte dich enttäuscht an. Freilich, die habe was, talentiert sei die und klug, könnte sogar recht hübsch sein, wenn da nicht diese Augen wären, und so knochig, sie seufzte, hatte sich wohl ein anderes Kaliber gewünscht, Daniela, die Wuchtbrumme, oder wenigstens Meike aus dem Neubaugebiet, die zwar einen hässlichen Überbiss hat, dafür aber einen reichen Vater, Fabrikant für Farben und Lacke, das wäre ihr recht gewesen, der hätte sie ein Leben lang mit Pinseln und Terpentin versorgt, sie sagte: Tanja ist süß, aber krank.
In ihren Augen zuckte ein Licht, es glomm im Widerschein des Himmels auf dem Glas des Küchenschranks und säte zwei winzige Flämmchen in ihre Pupillen. Du bräuchtest jemanden, der dir zeigt, wo es langgeht. Jungs in der Pubertät seien oft orientierungslos.
Auf einem jäh in deinem Kopf aufflackernden Bild sahst du sie in einem weißen, aufgeräumten Zimmer der Klinik sitzen, mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem bequemen Sessel, vielleicht neben einem Gummibaum, ihr gegenüber ein bebrillter Arzt, der genau diesen Satz sagte: Zeigen Sie ihm, wo es langgeht. Erst jetzt wurde dir klar, warum du dich bei den Telefonaten im Winter oft so sprachlos gefühlt hattest. Sicher, du fürchtest den Apparat, der nur deine Stimme überträgt, sich nicht täuschen oder ablenken lässt wie die Menschen. Wenn dir ein Wort im Mund klemmt, wendest du dich kurz ab, um es dann im Zurückdrehen herauszuschleudern, oder du simulierst einen Hustenanfall, der den quersitzenden Satz konsonantenlos herauskatapultiert. MitRuckungen und Zuckungen kannst du dich stets zwischen den Sprachtrümmern hindurchlavieren, und im besten Fall hört dein Gegenüber das Stottern gar nicht, denkt nur, du bist eine zappelige Natur.
Doch es war nicht nur das Telefon, das erbarmungslos auf das nächste Wort wartete, egal, wie du dich wandest. Mit dem Hörer in der Hand hast du in Lamberts Diele am Bänkchen verharrt, an der Wand darüber ein Trockenblumenstrauß, den du mit Blicken seziertest, von den mit einem Samtband zusammengebundenen Stielen bis in die feinen Adern der Blätter, wenn dir Marga am anderen Ende der Leitung von ihrem Klinikalltag berichtete, zweimal die Woche abends, meist mittwochs und sonntags, den Fraß beschrieb, den es wieder gegeben hatte, die Namen ihrer Mitpatientinnen aufsagte, Gisela, erinnerst du dich, Astrid, die auch schon acht Kilo zugenommen und wieder zu rauchen begonnen habe, und ihre Bettnachbarin Birgül, eine Türkin, deren Mann stinkendes Essen in Aluminiumschalen bringe, aber sonst ganz okay sei. Sie erzählte von den Verrückten, ihrem wirren Geplapper, und dass sie jetzt endlich keinen Ärger mit ihrem dauernd verlegten Feuerzeug mehr habe, das nämlich, lachte sie ein wenig zu laut, sei hier am Tisch festgekettet.
Du hast oft genickt, manchmal gelächelt, stets zu spät fiel dir ein, dass sie es gar nicht sehen konnte. Wenn du in diesen Telefonaten den einzigen vollständigen Satz herausbrachtest, wann sie wieder nach Hause komme, schwieg sie eine Weile und sagte dann etwas von den Ärzten, die der Meinung seien, dass ihr beide ein wenig Abstand voneinander bräuchtet. Du hättest den Trockenblumenstrauß am liebsten vom Nagel gerissen, er war hässlich und staubig, ein Ungetüm, das Marga kurzerhand in die Tonne getreten
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