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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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zurückgebracht, weil sie Angst hatte, sich in der Stadt zu verlaufen. Dann, so erzählt man sich, ist der Unglückselige vor die nächste S-Bahn gesprungen.
    Und wenn die gleichen Ärzte, die Kar-Kar nicht retten konnten, auch bei deiner Mutter versagt hatten? Wie solltest du dich nun um sie kümmern?, dachtest du und starrtest die fremde oder vielmehr fremd gewordene Frau an deiner Seite ängstlich an. Vom Dachboden herunter drang ein Poltern, gefolgt von einem kurzen Aufschrei. Durch die Mauern hindurch hörtest du Daniel fluchen, Marga seufzte: Zum Handwerker taugt er nicht. Du bist aufgestanden und hast irgendetwas von deinen Sachen gemurmelt, die du bei Marianne holen wolltest, doch sie hielt dich zurück. Ob du lieber eine Schwester oder einen Bruder willst?
    Du hast trotzig deine Hand weggezogen. Immer hattest du dir diese Art Familie gewünscht, die abends, bei Anbruch der Dämmerung, um den Küchentisch sitzt, an den Stirnseiten Vater und Mutter, seitlich die Kinder, in der Mitte eine Schüssel mit Suppe oder die Platte mit belegten Broten, garniert mit sauren Gurken. Die Fleischwurstschnitten aß man mit Messer und Gabel; so hast du es oft durch die hellerleuchteten Fenster im Dorf gesehen. Neben dir würde Marga sitzen, und auf dem Stuhl, wo sich die Post stapelt, soll Hannes hin, mit abgewinkeltem Ellenbogen, der immer näher kommt, wie bei Lamberts am Tisch.
    Auch bei Marianne hatte es eine Art Allestopf gegeben, ein nahrhaftes und sättigendes Mahl, von dem alle aus ihrer Sippe alles oder einen Teil aßen. Wie auch Margas Eintopf war das Hausgericht der Tante zu deiner Leibspeise geworden, ein schnell zubereitetes Essen, jederzeit verlänger- und aufwärmbar; der Tagesplan der Bäuerin war zwischen Herd, Stall, Acker, Marktstand und Singkreis eng getaktet. Mit dem Restetopf kriegte sie ihre Schar zufrieden und satt: Kerstin aß nur das Fleisch und verschmähte alles Grüne; Martin wiederum war das Feste ein Gräuel, er löffelte den Sud ab und manschte noch aus der Einlage am Tellerboden die Flüssigkeit, bis Marianne eine Kelle Brühe aus dem Topf abschöpfte und nachgoss; so ging das, bis er genug hatte. Hannes schlang alles wortlos und gierig hinunter, und Ole liebte es, gleichartige Gemüsestücke und Speckbrocken wie Karten eines Memoryspiels auf dem Tellerrand aufzureihen, um sich irgendwann alles auf einmal in den Mund zu schaufeln.
    Du mochtest den Sellerie nicht, das Fleisch dafür umso lieber, und während du aus den Augenwinkeln Hannes beobachtet hast, der sich manchmal mit dem Handrücken über die laufende Nase oder ein Rinnsal aus dem Mundwinkelwischte und dabei den Ellenbogen so weit auf den Tisch spreizte, dass du durch den abgeschnittenen Ärmel seines T-Shirts das würzig riechende Allerlei von Muskeln, Haut und Härchen sahst, hattest du dich zwar noch nicht satt gegessen, aber längst sattgesehen.
    Ihm gegenüber am heimischen Tisch hättest du Tanja gesetzt; Tanja wäre die perfekte Schwester. Mit ihr würdest du all die Geheimnisse teilen, die du Marga nicht anvertrauen kannst und willst, weil sie eben die Mutter ist, und auch Brüder, so hattest du es in deiner Gastfamilie beobachtet, bestehlen einander und zanken. Wenn Hannes den fünf Jahre jüngeren Martin mit einem seiner Comics erwischte, gab es Zoff. Er zappelte im Schwitzkasten des großen Bruders, spuckte und schrie nach der Mutter, die nicht den Dieb, sondern den Beklauten mit der Kopfnuss abstrafte, wofür Hannes sich rächte, indem er dem Jüngeren beim Abendbrot den Pudding wegfraß. Karl Lambert wies den Unruhestifter vom Tisch, Kerstin, die als echter Kerl, der sie sein wollte, Süßspeisen verabscheute, schob dem Geprellten ihren Nachtisch hin. Überhaupt sahst du die beiden stets die Köpfe zusammenstecken. Trotz seines Asthmas nahm sie Martin, nicht dich oder Ole, mit in den Hühnerstall zu den brütenden Glucken, wo sie für Stunden verschwanden. Wenn sie sich die Rollschuhe anschnallte, treckte der Bruder sie im Gegenzug auf seinem Fahrrad über die Dorfstraße, wo sie mit Kreide Bahnen und Hindernisse auf den Asphalt gezeichnet hatte. Nie durfte Martin auch nur einen Parcours selbst fahren. Doch er beschwerte sich nicht; beim Elfmeterschießen stand Kerstin dafür Runde um Runde zwischen den Bohnenstangen und hielt jeden Ball.
    Tanja und du wärt ähnlich unzertrennlich gewesen. Du hättest sie jeden Morgen in ihrem Rollstuhl an den Tisch gefahren, von dort durchs Dorf, vorbei an dem Gewackel der Gardinen zur

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