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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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Schule, wo du sie über den Pausenhof und durch die Gänge schiebst. Alle springen zur Seite, wenn du das schwere Teil rückwärts über die Stufen wuchtest, und sogar David Voss hält euch seit neuestem die Klassenzimmertür auf und verbeißt sich den blöden Spruch. Für weite Strecken klammert sich Tanja nach Kerstins Vorbild an den Gepäckträger deines Rads. Keine Treppe wäre ein Hindernis gewesen; du hättest sie, wie man sagt, buchstäblich auf Händen überall hingetragen, alles getan, damit sie dir wieder verzeiht.
    Wahr aber ist, dass Frau Deichsen dich mehrmals abgewiesen hat, als du dich nach Tanja erkundigen wolltest; erst sei sie noch im Krankenhaus, dann in der Reha gewesen. Als du kleinlaut fragtest, ob du sie dort besuchen könntest, drückte die Pfarrersfrau die Tür bis auf einen kleinen Spalt zu, steckte das spitze Gesicht hindurch und erwiderte: Glaubst du tatsächlich, ihr damit eine Freude zu machen? Sie hielt dabei den Hund fest, der die Zähne bleckte und dich anknurrte, was er zuvor nie getan hatte.
    Dann hieß es im Dorf, Tanja sei zurück, doch sie kam nicht mehr zur Schule; das Gebäude war ein altes, oft umgebautes voll steiler Treppen und enger Türen. An einem Abend im Februar hatte Marianne beim Essen erzählt, dass Tanja in Zukunft auf ein behindertengerechtes Internat gehen werde, und mit einem Seitenblick zu dir: Selbstverständlich werdet ihr sie dort besuchen. Hannes warf den Löffel hin. Es war ein Unfall, rief er, wie oft er ihr das noch erklären solle? Seine Stimme überschlug sich in der Mitte des Satzes und sacktehinter Unfall, dem Lügenwort, plötzlich weg. Ich fahre euch hin, erwiderte Marianne, es klang wie ein Befehl. Er sprang auf, riss seine Jacke vom Haken und knallte die Tür. Du wolltest hinterher, doch ein Blick der Bäuerin genügte. Sie schüttete eine Kelle in deinen Teller, die Suppe spritzte aufs Wachstuch, die Kinder löffelten schweigend.
    Ein paar Tage später bist du wieder vor die Pfarrerstür und, als die aufging, kurzentschlossen hinein in den misstrauischen Spalt. Frau Deichsen stellte sich dir abwehrend in den Weg, Ronja knurrte, schien sich aber dann des lustigen Winternachmittags zu entsinnen und führte dich mit wedelnder Rute an der Muttersperre vorbei ins Wohnzimmer.
    Tanja saß im Rollstuhl vor dem Fernseher, vertieft in eine Sketchsendung. Sie lachte bei jedem Jux auf, stieß dabei den Fuß, den sie anscheinend wieder bewegen konnte, gegen das Trittbrett, schaute schließlich beiläufig zu dir hoch und gluckste: Das ist total lustig. Die Mutter kam herein und schnitt dir abermals den Weg ab. Sie halte das für keine gute Idee, ermahnte sie die Tochter mit einer Stimme, die um Beherrschung rang. Schon gut, Mutti, erwiderte Tanja, befahl Frau Deichsen mit einem Blick hinaus und dich auf das Sofa.
    Sie hatte ein wenig Schminke aufgelegt, ihre Lippen glänzten perlmuttern, der zartrosa Wangenschatten tilgte alles Weiche und Liebliche in ihrem Gesicht, das noch nie besonders kindlich gewirkt hatte. Ihre Augen schienen noch blauer geworden. Das Herz klopfte dir bis zum Hals; es war das erste Wiedersehen seit dem Moment, als die Rettungssanitäter sie auf der Trage in den Helikopter geschoben hatten. Für den Rotkreuzwagen hatte es wegen der Schneeverwehungen kein Durchkommen gegeben. In all den Jahren war nie der Notarzt zum Heidedamm gerufen worden, nicht einmal beim Tod von Hannes’ Großmutter, und dann gleich an zwei Tagen hintereinander. Wieder hatten die Dörfler im knietiefen Schnee Spalier gestanden, während die Sanitäter Tanja verarzteten, die inzwischen aus der Bewusstlosigkeit erwacht war und vor Schmerzen schrie. Hannes war stammelnd und in seiner Aufregung oder wegen des noch immer schneidenden Winds flammendrot im Gesicht auf und ab gelaufen, hin und her zwischen den Männern, Marianne und Tanjas abwechselnd weinender und fluchender Mutter, die ihn schließlich bei den Schultern packte und harsche, für eine Pfarrersfrau geradezu unflätige Beschimpfungen ausstieß, die Hannes in seiner Verzweiflung noch mehr aufstachelten, immer wieder den Hergang des Unfalls zu schildern, die verdächtigen Geräusche im Dachboden, Tanja, die dort ein Tier oder sogar einen Eindringling vermutet habe, er, Hannes, der sie ja gewarnt, du, Dion – und er zeigte drohend auf dich –, der sie aber ermuntert habe, den dunklen Speicher zu inspizieren, wo schon das Loch im Dach klaffte und ausgerechnet in dem Moment, als Tanja einen Blick von dem

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