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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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hätte.
    Nur einmal fügte sie einen Satz hinzu, an den du nun wieder denken musstest; er passte zu den Begriffen Pubertät und orientierungslos , die keine Margaworte waren. Sie hatte sich selbst korrigiert, als stünde plötzlich jemand hinter ihr, der zuhörte: Ich meine, sagte sie, ich muss lernen, dich loszulassen.
    Marianne, die das Wohnzimmer aufräumte, war auf dich zugekommen und hatte dir den Hörer abgenommen. Sie solle sich keine Sorgen machen, rief sie so laut, als müsste sie die Entfernung nach Hamburg tatsächlich mit bloßer Stimme überbrücken. Ihm gehe es gut. Sie nickte dir dabei kräftig zu; du würdest mit Appetit essen, auf dem Hof mit anpacken, mittlerweile dein eigenes Zimmer bewohnen, ja, doch, wie bitte? Ach was, Rumpelkammer!, sagte sie und meinte damit deine neue Schlafstätte im ehemaligen Zimmer der Großmutter, wo sie alles hergerichtet habe, schön hättest du es jetzt dort, hell und ruhig für die Hausaufgaben.
    In der Leitung knackte es, die Tante schüttelte den Hörer, rief mehrmals den Namen deiner Mutter und sagte schließlich beleidigt: Aufgelegt! Doch du wusstest, dass ihr die Münzen für den Fernsprecher ausgegangen waren, den du dir an der Wand eines weißen, von endlosen Türreihen flankierten Korridors vorstelltest, über den streng blickende Krankenschwestern in weißen Gewändern und mit Hauben auf dem geknoteten Haar die Idioten zerrten, die sich in ihren Händen krümmten oder apathisch in den Ecken kauerten, an ihren entblößten Genitalien spielten und mit den dreckigen Fußnägeln knispelten. Zwar bezeichnete Marianne das Krankenhaus, wo man deine Mutter behandelte, stets mehr oder weniger wohlwollend als die Anstalt, David Voss aber hatte, kaum war damals im November die Neuigkeit durchsDorf gegangen, auf dem Schulhof herumposaunt, dass die Katthusen nun dort sei, wo sie auch Kar-Kar, den sprach- und triebgestörten Sohn der Karmstedters aus Kleenze, hingebracht hätten, nämlich in der Klapse.
    Kar-Kar, das wusstest du aus den Erzählungen, hatte mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Lamberts Knecht soll ihn angeblich vom Trecker aus auf dem Bahndamm gesehen und zur Polizei geschleift haben, Karsten Karmstedter, verdächtigte er den Lebensmüden, habe sich an den Schienen zu schaffen gemacht. Es heißt, er hat sich oft in Hamburg herumgetrieben, zwielichtige Personen im Schlepptau, Drogendealer, sagen die einen, Käufliche, die anderen. Ein Mannweib sei er gewesen, das hattest du Ilse Bloch im Laden zu einer Kundin sagen hören, wenige Wochen nach seinem Tod. Du wolltest von Marga wissen, was das sei, ein Mannweib, und sie hatte aufgelacht und dich gefragt, wer solch dumme Wörter erfinde. Als du ihr erzähltest, was du Ilse Bloch abgelauscht hattest, schaute sie dich nachdenklich an, packte dich schließlich bei den Schultern und erklärte mit ernster Stimme: Karsten Karmstedter war schwul, das heißt, er hat es mit Männern getrieben. Außerdem drogenabhängig, ein Fixer, der auf den Strich gegangen ist, um an Geld für seinen Stoff zu kommen, aber das ist nicht der Grund für seinen Tod. Der Grund, fügte sie nach einer Pause hinzu, in der ihre Gedanken weit abgeschweift sein mussten, denn sie schüttelte sich wie nach einem Kurzschlaf, als sie wieder zu dir blickte, dann zum Küchenfenster hinausdeutete, Richtung Dorf, und sagte: Der Grund, warum er sterben wollte, sind die.
    Du erinnerst dich noch genau: Du warst zehn, als die Nachricht von seinem Selbstmord in Fenndorf die Runde machte. In den Jahren zuvor hattest du Kar-Kar ein paar Mal auf den Dorffesten gesehen; er war zwölf Jahre älter als du und meistens betrunken. Obwohl du nie ein Wort mit ihm gewechselt, dich sogar ein wenig vor seinem geröteten, stets ein wenig verzerrten, wie von innen heraus geschwollenen Gesicht mit den flackernden Augen gefürchtet hast, fühltest du dich auf eine gewisse Weise auch zu ihm hingezogen, in einer Art stiller Komplizenschaft, wahrscheinlich, weil auch er stotterte; wenn Kar-Kar am Tresen ein Bier bestellte, warf er den Kopf in den Nacken und trat das Wort mit dem Stiefel gegen das Podest.
    Irgendwann war er nach Hamburg gegangen und auch auf den Festen kaum noch erschienen. Sein Vater, hieß es, habe ihm Hausverbot erteilt. Siegried Karmstedter fuhr zuletzt sonntags mit dem Esskorb nach Hamburg und besuchte ihn in einem Krankenhaus, wo man ihm angeblich helfen konnte. An jenem Tag habe er die Mutter wie immer von der Klinik zum Hauptbahnhof

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