Moor
etwa deine Gedanken gelesen? Deinen innersten Wunsch mit ihrem sechsten Sinn erlauscht, dem Muttersinn, den man ihr in der Therapie geschärft und geschult hatte, damit sie sich in Zukunft besser um dich kümmern kann? Sie wusste doch kaum mehr etwas von dir und den Dingen, die in den letzten Monaten geschehen waren; bei euren Telefonaten hattest du nur das Nötigste erwähnt; deine Schulnoten, Mariannes Essen, das Wetter in Fenndorf, selten dein Heimweh und die Sehnsucht nach deralten Zeit. Wieso kam sie jetzt plötzlich mit der Idee, noch ein Kind zu kriegen?
Vor dem leeren Küchenfenster waren ihre Augen blicklos. Der rote Widerschein auf dem Glas war erloschen. Sollte ich es mir aussuchen können, sagte sie mit gedämpfter Stimme, in der Art, wie man unwillkürlich zu flüstern beginnt, wenn es Nacht wird. Sie seufzte, schien lange zu überlegen, oder machte sie aus der Sache absichtlich ein Geheimnis? Noch ein Junge, sagte sie schließlich. Kaum sahst du die Bewegung ihrer Lippen. Jungs seien schwierige Kleinkinder, aber später würden sie pflegeleicht. Im Finstern klangen die Worte verloren und unsicher, fast flehend. Sie merkte, wie du von ihr abrücktest, rutschte nach. Ich frag Daniel, ob er auch will, und sie deutete zur Treppe hinauf.
Du hast auf deine Armbanduhr mit dem phosphoreszierenden Zifferblatt geschaut, ein Weihnachtsgeschenk von Marianne und Karl. Dass du jetzt rüber zum Essen müsstest; deine Stimme erschien dir im Dunkeln tiefer und fest. Sie reagierte nicht. Der Weg raus war wie ein Tunnel. Im Westen glühte noch immer eine einzelne Wolke am Horizont. Dahinter waren Himmel und Moor schon eins.
◆◆
Der Helikopter steigt von der Wiese beim Feuerwehrhaus auf, wo im Juli das Dorffestzelt steht. Die Rotorblätter flirren in der Luft, peitschen die Erlen nieder, die so gebeugt noch karger und kränker wirken. Die Kufen blinken im Licht, mit panischem Flügelschlag flieht eine Ente aus dem Schilf. In deinem Kopf dröhnt das Getöse, doch du widerstehst dem Drang, die Hände auf die Ohren zu pressen, streckst dich in den sinnbetäubenden Lärm und wünschst dir den Filmriss.
Mehrmals bist du in den letzten Tagen den Löschgeschwadern gefolgt, auf der Suche nach dem Moorbrand, von dem alle sprechen. Du kennst die Schlupfwinkel, wo die Absperrbänder enden und keiner der Wachposten sich hinverirrt. In seinem vertrauten, immergleichen Auf und Ab von Mulden und Kuppen, Schlenken und Bulten lag das Moor unterm Horizont. Doch die Stille war eine andere, vollständigere, befreit von allen Geisterrufen, Traumbekenntnissen und Kinderschwüren; lange hast du am Tor zu deinem Kindheitsreich gestanden, Ausschau gehalten und dem Schweigen gelauscht. Das Feuer, dachtest du, muss in einem anderen Teil wüten, einem dir noch unbekannten, der abseits des Kolks liegt, im Herzen des Moores, das gleichzeitig auch sein Ende ist; auf der anderen Seite beginnt allmählich wieder die Welt, spitzen Trampelpfade zwischen den schwingenden Wedeln des Adlerfarns hervor, geht die Graswüste erst in Bruchwaldstreifen, dann in Magerwiesen über, die von Elektrozäunen gesäumt sind, Straßen, Gehöften, einem Dorf; in der glitzernden Luft, noch zwei, vielleicht auch fünf Kilometer entfernt, sahst du den Kirchturm von Rahse.
Du gabst die Suche auf, drehtest dich um und erschrakst: Unweit des Weges, auf dem du gekommen warst, nur ein paar hundert Meter entfernt, hinter dem Buschgürtel, der dir vorher die Sicht genommen hatte, war die Ebene schwarz. Durchragt von ein paar verkohlten Birkengerippen, breitete sich der Ascheteppich nach Osten aus, wo sich jenseits der Brandfläche die Klinkerhäuser von Fenndorf abzeichneten. Ein Hubschrauber näherte sich, noch lautlos; dann plötzlich, als hätte er eine unsichtbare Mauer durchbrochen, schwoll der Lärm an. Schon gellte die Trillerpfeife des Wachmanns, der plötzlich drüben am Absperrband stand. Du ranntest schneller in der Angst, gleich könnte der Wasserschwall aufdich herabstürzen, an einer Stelle, wo in deinen Fußstapfen schon die Erde brannte; bis zu zehn Zentimeter tief haben sich mancherorts die Glutnester in den Torf gefressen, schwelen geduldig unter der Grasnarbe und warten auf den Wind, der sie entfacht, nach einem Zufallsprinzip, das die Löschtrupps seit Tagen planlos durch die Ebene treibt. Unterm Moos, das dich trägt, in der Spur, die dich führt, und mit dem gleichen Ziel, das dich retten soll, hefte ich mich an deine Fersen.
Wann begann das Moor zu
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